Kommentar |
Wohl kein deutschsprachiger Text des Mittelalters erfreut sich heute noch so allgemeiner Bekanntheit wie das um 1200 wohl im heutigen bayrisch-österreichischen Grenzraum gedichtete ›Nibelungenlied‹. Erstmals für die Verschriftlichung wurden darin über Jahrhunderte hinweg mündlich überlieferte Erzählungen von Helden der Völkerwanderungszeit und des frühesten Mittelalters (5.-7. Jh.) miteinander verbunden und in einen neuen Sinnzusammenhang gestellt. Das Figurenbild des Helden, für den Ansehen und Treue in menschlichen Beziehungen Werte sind, zu deren Schutz er bereit ist, auch exzessive Gewalt anzuwenden, blieb dabei erstaunlich gut erhalten und wurde nur sehr bedingt den inzwischen kulturell verbindlich gewordenen Werten des höfischen Rittertums angeglichen. Die sich in den beiden erst vom ›Nibelungenlied‹-Dichter aufeinander hin geordneten Großteilen entspannende Tragik ist letztlich nur aufgrund dieser Charakteristik der handelnden Personen – und, dies verschärfend, einer grundlegend auf die Visualisierbarkeit von Werten ausgelegten Gesellschaftsstruktur – zu verstehen, was jedoch offensichtlich nicht bedeutet, dass die Dichtung in unserer inzwischen noch viel fundamentaler veränderten Zeit und Kultur irgend an Reiz verloren hätte. Anhand dieses Werks – und auszugsweise auch anhand der die bereits zeitgenössisch schockierende Tragik und Gewalt des ›Nibelungenliedes‹ durch literarische „Trauerarbeit“ abzumildern suchenden ›Nibelungenklage‹ – soll im Seminar in das Lesen und Übersetzen mittelhochdeutscher Texte eingeübt werden, was durch eine fundamentale sprachgeschichtliche Einführung in das Mittelhochdeutsche und die Thematisierung der wesentlichen literaturwissenschaftlichen Probleme, die das Gelesene aufgibt, begleitet wird. |
Literatur |
Textgrundlage: Das Nibelungenlied und die Klage. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen. Joachim Heinzle (Hg., Übs., Komm.) (Bibliothek deutscher Klassiker 196/Bibliothek des Mittelalters 12), Berlin 2013, als Taschenbuch 2015.
Vorbereitende Lektüre: Curschmann, Michael: Art. '›Nibelungenlied‹ und ›Klage‹', in: Kurt Ruh u.a. (Hgg.): Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Aufl., Bd. 6, Berlin/New York 1987, Sp. 926-969, bes. Sp. 932-941; Weddige, Hilkert: Mittelhochdeutsch. Eine Einführung, München 82010. |
Bemerkung |
Der vorherige Besuch des Proseminars zur Geschichte der deutschen Sprache wird mit Nachdruck empfohlen.
Unentschuldigtes Fehlen in der ersten Seminarsitzung führt zum Ausschluß von der Teilnahme !
Begleitend zu dieser Veranstaltung wird ein freiwilliges Tutorium, geleitet von Johanna Mudrich, angeboten:
Mo, 16-18 Uhr, Geb. C5.3, Raum 3.24 ODER
Do, 16-18 Uhr, Geb. C5.3, Raum 2.06
Der Besuch dieses Tutoriums wird nachdrücklichst empfohlen ! |