Die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Dramen gehört zur universitären Lehre, die Beschäftigung mit dem Transfer des Textes auf eine Bühne hingegen ist eine Besonderheit. Nach Frank Wedekinds Frühlings Erwachen wird mit Ödön von Horváths Kasimir und Karoline in einer zweisemestrigen Lehrveranstaltung an der UdS erneut ein Klassiker der Moderne szenisch erarbeitet und zur Aufführung gebracht; der theaterpraktischen Arbeit vorangestellt ist eine literaturwissenschaftliche Einführung.
Da die Universität zunehmend ein Ort lebenslangen Lernens ist, wollen wir mit dieser Lehrveranstaltung erneut Studierende, die ihr Erststudium absolvieren, und solche, die sich als Gasthörer*innen wissenschaftlich weiterbilden, zusammenführen. Den Studierenden, die im Rahmen ihres Erststudiums als Ergänzungsfach den Bachelor Optionalbereich belegen, wird die Integration von Theaterpraxis in ihr zumeist theoretisch-geisteswissenschaftliches Studium ermöglicht. Den Gasthörer*innen bietet sich die Chance der generationsübergreifenden Zusammenarbeit in einem gemeinsamen Projekt.
Der Generationen-Gap ist in Ödön von Horváths Kasimir und Karoline bereits angelegt: eine vom rasant fortschreitenden technologischen Fortschritt abgehängte Jugend in wirtschaftlich und politisch unruhigen Zeiten kämpft hier mit allen Mitteln um ihr kleines Glück. Ihr gegenüber steht eine finanziell abgesicherte, privilegierte Riege der „Alten”. Unter der Gattungsbezeichnung Volksstück zeichnet der Autor im Jahr 1932 ein scharfsichtiges, schonungsloses und in vielerlei Hinsicht nach über 90 Jahren immer noch hochaktuelles Gesellschaftsporträt. Das Stück richtet den Blick auf die Zusammehänge von sozialer Zugehörigkeit und den ökonomischen Bedinungen, denen nicht zuletzt auch zwischenmenschliche Beziehungen unterliegen. Unter dem fast schon ironischen Motto "Und die Liebe höret nimmer auf" stürzen sich die Protagonist*innen in das Getümmel des Münchener Oktoberfests, wo Personen aus unterschiedlichen sozialen Schichten aufeinander treffen. Die besondere Kulisse des Oktoberfestes steht für die Welt der Vergnügung und des schönen Scheins. Eingängige Schlagertexte geraten in Kontrast zur Gefühlswelt der Figuren, deren illusionäre Selbsttäuschung demaskiert wird. Die Spannung zwischen zynischem Humor und existenzieller Traurigkeit macht den besonderen Reiz des Stückes aus.
Rollentausch
Horváths Blick auf die Kräfteverhältnisse zwischen den Geschlechtern in Kasimir und Karoline ist ein ironischer. In unserer Lehrveranstaltung spitzen wir die bereits angelegte Befragung des männlichen und weiblichen Selbst- und Fremdbildes weiter zu, indem wir kurzerhand die Rollen tauschen: alle jungen Erwachsenen-Figuren werden gegengeschlechtlich besetzt, Kasimir also von einer Frau und Karoline von einem Mann gespielt. Ziel ist eine möglichst ernsthafte Auseinandersetzung mit den jeweiligen geschlechtlichen Zuschreibungen. Die entstehende Reibung hat zweifelsohne auch eine komische Komponente, dennoch geht es in erster Linie darum, spielerisch die Perspektive zu wechseln, das gesellschaftliche Korsett sichtbar und erfahrbar zu machen und dabei gleichzeitig unterhaltsam Horváths Tragikomödie vom Scheitern einer Liebesbeziehung an widrigen gesellschaftlichen Gegebenheiten zu erzählen.
Abhängig von der Konstellation der Teilnehmer*innen werden weitere dramaturgische Überlegungen und die Spielfassung der jeweiligen Gruppenzusammensetzung angepasst. Schauspielerische Erfahrungen der Teilnehmer*innen sind von Vorteil, aber nicht notwendig.
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