Kommentar |
Menschen brauchen Regeln, um ihr Zusammenleben zu organisieren. In der europäischen Kultur ist das gesetzte, also durch Staaten erlassene und kontrollierte Recht (Gesetze, Polizei, Justiz) ein historisch relativ altes Phänomen. Indigene schriftlose Kulturen hingegen fanden andere Formen der Regulierung des Zusammenlebens und der Kontrolle der Einhaltung sozialer Normen. Auch Gesellschaften mit schriftlich fixierten Gesetzen kennen daneben ein System an mehr oder weniger verbindlichen informellen Regeln und Normen, über deren Einhaltung das soziale Umfeld wacht. Die soziale Kontrolle durch die Nachbarschaft z.B. in kleinen ländlichen Zusammenhängen empfinden wir heute oft als einengend. Historisch gesehen hatte sie daneben eine wichtige Rolle für die Aufrechterhaltung einer geregelten sozialen Ordnung.
Die Rechtsanthropologie/Rechtsethnologie (früher in Deutschland auch 'Rechtliche Volkskunde' genannt), beschäftigt sich mit genau diesem Spannungsfeld. Sie schaut darauf, welche Rolle das - auch gesetzte - Recht in der Alltagskultur der Menschen in Geschichte und Gegenwart spielte und spielt und was sie daraus machten und machen. Rechtsanthropologie untersucht die soziale Funktion des Rechts und analysiert deshalb auch die informellen Normen, Formen der sozialen Kontrolle und Sanktionierung in jeweils spezifischen historischen und kulturellen Kontexten. Die frühneuzeitliche Gesellschaft in Europa z.B. kannte sogenannte 'Rügebräuche' wie das Charivari, um Verstöße gegen die Geschlechterordnung anzuzeigen und zu sanktionieren. Auch die vormoderne Konfliktkultur unterlag informellen Regeln von Fairness, deren Einhaltung im Fall einer Schlägerei z.B. durchaus von Außenstehenden eingefordert und kontrolliert werden konnten.
Mit derartigen Themen wird sich die Vorlesung beschäftigen. Der empirische Fokus liegt auf dem europäischen Kulturkreis in Geschichte und Gegenwart. Theoretisch und methodisch hingegen werden auch Konzepte vorgestellt, die auf ethnologischen Untersuchungen in außereuropäischen Kulturen basieren. |
Literatur |
Für unser Fach nach wie vor grundlegend:
Karl-S. Kramer, Grundriß einer rechtlichen Volkskunde, Neumünster 1967.
Methodisch-theoretisch trotz des Alters sehr anregend:
Simon Roberts, Ordnung und Konflikt. Einführung in die Rechtsethnologie, 1981.
Nicht so alt, aber relevant:
Franz und Keebet von Benda-Beckmann, Gesellschaftliche Wirkungen von Recht. Rechtsethnologische Perspektiven, 2007.
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