Kommentar |
Jetzt aber herrscht das Bedürfnis [...]. Der Nutzen ist das große Idol der Zeit [...]. Auf dieser groben Waage hat das geistige Verdienst der Kunst kein Gewicht, und, aller Aufmunterung beraubt, verschwindet sie von dem lermenden Markt des Jahrhunderts. Selbst der philosophische Untersuchungsgeist entreißt der Einbildungkraft eine Provinz nach der anderen, und die Grenzen der Kunst verengen sich, jemehr die Wissenschaft ihre Schranken erweitert.[1]
Im Zweyten Brief Über die ästhetische Erziehung des Menschenkonstatiert Schiller prosaisch die Folgen des gesellschaftlichen Differenzierungsprozesses für die Kunst. Sie konkurriert mit anderen gesellschaftlichen Teilbereichen und ist in enge Schranken verwiesen – die sie selbst zu bestimmen hat. Mit der Autonomisierung der Literatur zu Beginn der gesellschaftlichen Moderne im ausgehenden 18. Jahrhundert bleibt die Frage nach dem Eigenwert und der Funktion von Literatur anhaltend aktuell. Das zeigen nicht zuletzt die an zahlreichen Universitäten eingerichteten Poetikdozenturen und -professuren, in deren Rahmen Schriftsteller und Schriftstellerinnen ihre Profession erläutern, für sich werben, ihr Leben und Schreiben legitimieren. Für die meisten unter ihnen ist die Frage nach dem spezifischen Mehrwert ihrer Kunst von existenzieller Bedeutung, weil deren Beantwortung für sie insofern identitätskonstituierend ist, als sie auch ihren gesellschaftlichen Status mitdefiniert. Das durch die Autonomisierung der Literatur gesteigerte ästhetische Selbstbewusstsein einerseits und die Marginalisierungsangst vieler Literaten andererseits sind Kehrseiten der Medaille. Nicht von ungefähr wird die Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Gesellschaft, wird die Frage nach den Positionierungs- und Handlungsoptionen des ‚Dichters in seiner Zeit‘ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Soziologen wie Georg Simmel und Max Weber erstmals systematisch in den Blick genommen. Deren Einsicht, dass „der Bereich der ästhetischen und literarischen Kultur eine eigene, von den anderen gesellschaftlichen Funktionsbereichen (z. B. Recht, Religion, Politik) distinkt unterschiedene Sphäre darstellt”,[2]wird seitdem virulent diskutiert. „Ich habe eine Aufschrift gewählt, die heute über Dutzenden von Aufsätzen zu finden ist”, heißt es entsprechend in Musils Aufzeichnungen Der Dichter und diese Zeit Oder Der Dichter und seine Zeit”.[3]
Pointiert formuliert, ist die Moderne „jene Epoche, die, weil sie nach dem Nutzen von allem fragt, den Nutzen von Kunst in Frage” stellt,[4]so dass sich die Autoren und Autorinnen „die eigene Position und den eigenen Standort immer wieder neu reflexiv erkämpfen” müssen.[5]
Im Hauptseminar werden wir, nach einer allgemeinen Einführung in zentrale Fragen der Poetik und Ästhetik, exemplarisch einige Poetiken des 20. und 21. Jahrhunderts analysieren. Es wird darum gehen, nach Differenzen und Analogien jener Fragen und Antworten zu suchen, welche die Schriftsteller und Schriftstellerinnen selbst zur jeweiligen Zeit umtreiben. Am Ende des Seminars sollten Sie um fundierte Kenntnisse über poetologische Reflexionen im 20. und 21. Jahrhundert bereichert und über die entsprechenden sozial-, kultur- und geistesgeschichtlichen Kontexte informiert sein. Das Seminar erfordert eine intensive analytische Lektüre der essayistischen Texte. Jeder Studierende fertigt ein 8-10 Seiten umfassendes Arbeitspapier an.
[1]Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Mit den Augustenburger Briefen hrsg. von Klaus L. Berghahn. Stuttgart; Weimar 2008, S. 9-10.
[2]Linda Simonis: Literatursoziologie (Art.). In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, hrsg. von Ansgar Nünning. Dritte, aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart 2004, S. 400-402, hier S. 401.
[3]Robert Musil: Der Dichter und diese Zeit Oder Der Dichter und seine Zeit. In: Gesammelte Werke in neun Bänden, hrsg. von Adolf Frisé. Band 8: Essays und Reden. Zweite, verbesserte Auflage. Reinbek b. Hamburg 1981, S. 1349-1352, hier S. 1349. Im Folgenden zitiert als GW 8.
[4]Konrad Paul Liessmann: Philosophie der modernen Kunst. Köln, Weimar, Wien 1999, S. 13.
[5]Ulrich Volk: Der poetologische Diskurs der Gegenwart. Untersuchungen zum zeitgenössischen Verständnis von Poetik, dargestellt an ausgewählten Beispielen der Frankfurter Stiftungsdozentur Poetik. Frankfurt a. M., Berlin, Bern 2003, S. 30. |
Literatur |
Hugo von Hofmannsthal: Der Dichter und diese Zeit (1906)
Heinrich Mann: Die geistige Lage (1932)
Robert Musil:Der Dichter in dieser Zeit (1934)
Thomas Mann: Die Kunst des Romans (1939)
Ingeborg Bachmann: Probleme zeitgenössischer Dichtung (Frankfurter Poetikvorlesungen 1959/60)
Hans Magnus Enzensberger: Frankfurter Poetikvorlesungen1964/65
Peter Handke: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (1967)
Dieter Wellershoff: Fiktion und Praxis (1969)
Jurek Becker: Warnung vor dem Schriftsteller. Drei Vorlesungen in Frankfurt (1990)
Daniel Kehlmann: Diese sehr ernsten Scherze. (Göttinger Poetikvorlesungen, 2007)
Juli Zeh: Treideln. (Frankfurter Poetikvorlesungen, 2013) |