Kommentar |
Literarisches Übersetzen ist keine neutrale Praxis. Martin Luther hat ihr politisches Potential auf eindrucksvolle Weise demonstriert, indem er mit seiner Übersetzung der Bibel ins Deutsche die Grundlage für die Reformation lieferte. Das Seminar bietet Einblicke in die wichtigsten Positionen der Übersetzungstheorie im deutsch-französischen Raum vom 16. Jh. bis in die Gegenwart – von Martin Luther bis Barbara Cassin. Dabei rekonstruieren wir den historisch-kulturellen Kontext, in dem diese Schlüsseltexte entstanden sind. Welche Rolle spielt z. B. die Konstruktion von nationaler Sprache und Kultur in der Reflexion zur Übersetzung? Ziel ist es, den heutigen übersetzungstheoretischen Diskurs im Spannungsfeld von kultureller Herrschaft und hospitalité langagière besser zu verstehen.
Um 1800 setzt sich in Deutschland ein hermeneutisches, durch die Frühromantik geprägtes Verständnis von Übersetzung durch – zum Teil gegen die französische Tradition der belles infidèles gerichtet. Als Kunst des Verstehens und Deutens wird Übersetzung nicht mehr als das Vermitteln einer vorab im Originaltext festgelegten Bedeutung aufgefasst, sondern vielmehr als ein dialogischer Prozess zwischen dem Eigenen und dem Fremden (Friedrich Schleiermacher, Wilhelm von Humboldt). Ab den 1980er Jahren arbeiten Übersetzungstheoretiker wie Antoine Berman, Paul Ricoeur und Henri Meschonnic in Frankreich eine éthique de la traduction in enger Auseinandersetzung mit dieser hermeneutischen Tradition heraus. Das Seminar widmet sich zum großen Teil diesem Kernstück deutsch-französischer Ideengeschichte und fragt abschließend nach dem Stellenwert von Übersetzung in postkolonialer Theoriebildung. |