Angesichts der Debatten über Rassismus ist einmal mehr angebracht, einerseits einen historisch und theoretisch informierten Blick auf Kolonialismus und Mechanismen von Rassismen zu werfen und andererseits danach zu fragen, welche Rolle Literatur als Verhandlungs- und Erkenntnismedium einnehmen kann. Wenngleich wir uns nicht darauf beschränken, stehen dabei zwei grundstürzende historische Ereignisse mit ihrer diachronen literarischen Auseinandersetzung im Zentrum des Seminars: der Sklavenaufstand in der französischen Kolonie Saint Domingue von 1791 (später die erste Schwarze Republik Haiti), in der sich die Aporie aufklärerischer Ideale zeigte (insbes. das als universell formulierte Gleichheitspostulat der Französischen Revolution), sowie die Aufstände der Herero und Nama in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika 1904 (auf dem Gebiet des heutigen Namibia), deren Niederschlagung als Völkermord in die Geschichte einging. Bei unseren Lektüren werden wir Strategien der Blickführung und Zuschreibung untersuchen und die Frage nach Möglichkeiten und Formen ‚postkolonialen‘ Erzählens verfolgen.
Mögliche Texte:
(1) Für die Auseinandersetzung mit Haiti in der deutschsprachigen Literatur: Kleists Erzählung „Die Verlobung in St. Domingo“ (1811) mit deren literarischen Folgen: Anna Seghers’ „Hochzeit von Haiti“ (1949), Hans Christoph Buchs „Die Hochzeit von Port-au-Prince“ (1984), was bei Interesse noch um Theatertexte ergänzt werden kann [Theodor Körners in Zeitgenossenschaft zu Kleist entstandenes Drama „Toni“ (1812), Heiner Müllers auf Jamaika spielendes Drama „Der Auftrag“ (1979), Necati Öziris „Die Verlobung in St. Domingo – Ein Widerspruch“ (UA 2019)].
(2) Für die Auseinandersetzung mit Verhältnissen in deutschen Kolonien: Uwe Timms „Morenga“ (1978), Thomas von Steinaeckers „Schutzgebiet“ (2009), Christian Krachts „Imperium“ (2012), was bei Interesse um den Augenzeugenbericht einer deutschen Kolonialistin ergänzt werden kann, der, so sehr er um ‚Fairness‘ bemüht ist, die Alltäglichkeit des rassistisch geprägten Blicks widerspiegelt (Else Sonnenbergs „Wie es am Waterberg zuging. Ein Originalbericht von 1904 zur Geschichte des Herero-Aufstandes in Deutsch-Südwestafrika“).
(3) Abschließend soll die Perspektive auf die Nachhaltigkeit von Rassismen bis heute erweitert werden: mit dem Roman „Adas Raum“ der Bachmann-Preisträgerin Sharon Dodua Otoo (2021).
Im Seminarplan gesetzt sind die Erzähltexte von Kleist, Seghers, Timm und Dodua Otoo. Die Auswahl aus den weiteren Titeln wird gemeinsam in der ersten Seminarsitzung beschlossen.
Zur Einarbeitung in postkoloniale Theorie empfohlen: María do Mar Castro Varela / Nikita Dhawan: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. Bielefeld: transcript, 2005.
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