Kommentar |
Die Erfahrung, dass man den Erzählerinnen und Erzählern fiktionaler literarischer Texte gelegentlich nicht so recht trauen kann, hat jeder Leser schon einmal gemacht. Dr. Sheppard, der Ich-Erzähler von Agatha Christies Alibi (The Murder of Roger Ackroyd), stellt sich z. B. vor als rechtschaffener Mann, der verständlicherweise schockiert von einem schrecklichen Mord in der Nachbarschaft ist. Fast den ganzen Text über hat man den begründeten Eindruck, dass er dem berühmten Detektiv Hercule Poirot bei der Aufklärung des Falls helfend zur Seite steht. Wie sich am Ende herausstellt, war ausgerechnet er aber der Täter, der uns Leser den ganzen Text über belogen und in die Irre geführt hat! Genau wie reale Menschen täuschen sich Erzählerfiguren immer wieder einmal, oft über- oder untertreiben sie oder versuchen den Leser für eine falsche Weltsicht oder eine moralisch verwerfliche Position einzunehmen, gelegentlich verschweigen sie – wie Dr. Sheppard – wichtige Fakten oder belügen die Leserschaft rundheraus. Die literaturwissenschaftliche Forschung subsumiert solche Fälle unter dem Label „Unzuverlässiges Erzählen”. Wir wollen uns in dem Hauptseminar mit allen möglichen Problemen auseinandersetzen, die sich rund um dieses Thema stellen. Wir wollen uns fragen, wann genau unzuverlässiges Erzählen vorliegt, ob man hinsichtlich der Frage, ob es vorliegt, sinnvoll geteilter Meinung sein kann, welche Spielarten unzuverlässigen Erzählens es überhaupt gibt usw. Neben solchen allgemein-theoretischen Problemen wollen wir uns einige besonders bekannte und interessante unzuverlässig erzählte Texte beispielhaft näher ansehen und uns fragen, welche spezifischen Probleme ihre Lektüre und Interpretation mit sich bringt. Dazu werden z. B. E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann gehören, sowie Erzählungen von Stefan Zweig und Heinrich von Kleist. Außerdem wollen wir sehen, mit welchen Techniken und formalen Innovationen der Film (z.B. Christopher Nolans Memento oder David Lynchs Mulholland Drive) unzuverlässig erzählen kann.
Zur Vorbereitung empfehle ich das kurze Kapitel 4.4 aus Tilmann Köppe und Tom Kindt: Erzähltheorie. Eine Einführung. Stuttgart: Reclam 2014. Wer sich im Vorfeld schon vertieft mit der Thematik auseinandersetzen möchte, kann sich Janina Jacke: Systematik unzuverlässigen Erzählens. Analytische Aufarbeitung und Explikation einer problematischen Kategorie. Berlin, Boston: de Gruyter 2020 vornehmen.
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