Kommentar |
Neben François Truffaut, Jean-Luc Godard und Jacques Rivette gilt Eric Rohmer als einer der bedeutendsten Vertreter der französischen Nouvelle Vague. Er scheint auch derjenige Regisseur zu sein, der dem frühen Programm der Nouvelle Vague – Verzicht auf kommerzielle Standards, Verzicht auf Starschauspieler, Plein-Air-Ästhetik, Freude am Amateurhaften und Elementen der Improvisation – bis zuletzt treu geblieben ist. Der scheinbaren formalen Einfachheit seiner Inszenierungen steht eine profunde Auseinandersetzung mit dem menschlichen Dasein, insbesondere mit der identitätsfundierenden Rolle der Leidenschaften gegenüber. Die Behauptung, dass alle Filme Rohmers junge Leute zeigen, die klug über Liebe reden und sich verlieben, ist zum Gemeinplatz geworden – und dennoch so etwas wie der gemeinsame Nenner der bisweilen unterschiedlich konturierten Filme. Bei dieser thematischen Orientierung ist Rohmer der literarischste der filmischen auteurs. Sein Œuvre speist sich aus der Höhenkammliteratur Frankreichs: der höfischen Liebe, der Moralistik, den Pensées Pascals, der Komödien Marivaux’ oder den Liaisons dangereuses, der Introspektion Rousseauscher Prägung. Trotz dieser Traditionsbezogenheit erzählen die Filme Rohmers in vielleicht noch eindringlicherer Weise als die Filme seiner Zeitgenossen von der Moderne: Vom Wandel des Verhältnisses der Geschlechter, von Treue und Libertinage in der Konsumgesellschaft, von problematisch gewordener Männlichkeit, von jugendlicher Selbstfindung.
Das Seminar verfolgt auf Grundlage des breiten Œuvres von Eric Rohmer zwei Fragestellungen, die sich aus der skizzierten Faktur der Filme ergeben: Erstens soll die filmische Inszenierung der Liebessprache untersucht werden. Im Anschluss an Luhmann und Barthes soll die Codierung der Liebe im filmischen Diskurs analysiert und historisch verortet werden. Dabei wird sich zeigen, dass Rohmer virtuos mit Fragmenten unterschiedlicher Epochen und Kontexte operiert. Zweitens soll einem Aspekt nachgegangen werden, der die Hybridisierung amouröser Codes bei Rohmer erst ermöglicht, nämlich der Intermedialität. Wir werden uns mit Forschungspositionen zu Intertextualität und Intermedialität beschäftigen (Genette, Lachmann, Paech), um Rohmers Filme als palimpsestartige Gebilde würdigen zu können, in denen sich die Spuren einer breiten literarischen, filmischen und philosophischen Tradition finden.
Schließlich soll die gemeinsame Arbeit an den Filmen dazu beitragen, Techniken der Filmanalyse zu vertiefen und den Umgang mit Sekundärliteratur (Bibliografieren, Exzerpieren) an konkreten Beispielen zu festigen. Insofern schließt das Proseminar nahtlos an die Lernziele der Einführungsveranstaltung (Methodische Grundlagen) an.
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Literatur |
Eine umfangreiche Bibliografie wird den Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmern zu Beginn des Semesters zur Verfügung gestellt.
Filme, die im Zentrum des Seminars stehen: Aus dem Zyklus « Contes moraux »: Ma nuit chez Maud (1969), La collectionneuse (1966), Le genou de Claire (1970) Aus dem Zyklus « Comédies et proverbes » : Pauline à la plage (1982), Le rayon vert (1986), L’ami de mon amie (1986) Die vier Filme der « Contes des quatre saisons »
Einführende Literatur zu Rohmer: Bonitzer, Pascal, Eric Rohmer, Paris, 1999. Felten, Uta, Figures du désir. Untersuchungen zur amourösen Rede in Filmen von Eric Rohmer, München, 2004.
Grundlagen zu Filmtheorie und Filmanalyse: Albersmeier, Franz-Josef (Hg.), Texte zur Theorie des Films, Stuttgart 42001 (RUB, 9943). Beicken, Peter, Wie interpretiert man einen Film? Stuttgart 2004 (RUB, 15227). Blandford, Steve / Grant, Barry / Hillier, Jim, The film studies dictionary, London 2001. Bordwell, David, Narration in the Fiction Film, London 1985. Fassler, Manfred / Halbach, Wulf (Hg.), Geschichte der Medien, München 1998. Faulstich, Werner, Grundwissen Medien, Stuttgart 52004. Felix, Jürgen (Hg.), Moderne Film Theorie, Mainz 22003. Kanzog, Klaus, Grundkurs Filmsemiotik, München 2007 (Diskurs Film, 10). Korte, Helmut, Einführung in die systematische Filmanalyse. Ein Arbeitsbuch, Berlin 42010 (ESV basics). Lüsebrink, Hans-Jürgen / Walter, Klaus Peter / Fendler, Ute / Stefani-Meyer, Georgette / Vatter, Christoph, Französische Kultur- und Medienwissenschaft. Eine Einführung, Tübingen 2004 (Narr-Studienbücher).
Grundlagen Intertextualität und Intermedialität: Genette, Gérard, Palimpsestes. La littérature au second degré, Paris 1982. Lachmann, Renate, Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne, Frankfurt a.M. 1990 Mecke, Jochen, « Im Zeichen der Literatur: Literarische Transformationen des Films ». In: Mecke, Jochen / Roloff, Volker (Hg.), Kino-/(Ro)Mania. Intermedialität zwischen Film und Literatur, Tübingen 19999, S. 97-123. Raible, Wolfgang, „Arten des Kommentierens – Arten der Sinnbildung – Arten des Verstehens. Spielarten der generischen Intertextualität“, in: Text und Kommentar, hg. von J. Assmann und B. Gladigow, München 1995 (Archäologie der literarischen Kommunikation, 4), S. 51-73. Rajewski, Irina, Intermedialität, Tübingen/Basel 2002 (UTB, 2261)
Grundlagen Liebessemantik: Barthes, Roland, Fragments d’un discours amoureux, Paris 1977. Luhmann, Niklas, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt 1984.
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