Das Glück ist per se keine spezifisch literarische Angelegenheit, sondern eine anthropologische Konstante. Menschliche Vorstellungen vom Glück sind weitaus älter als philosophische Definitionsversuche, die seit der Antike dann aber nicht mehr abbrechen. Ob Platon, Aristoteles, Cicero, Seneca, Epikur, Thomas von Aquin, Descartes, Locke, Kant, Hegel, Nietzsche oder Marcuse: die Gebildeten aller Epochen haben sich Fragen nach der Definition, der Erreichbarkeit und der Anspruchsberechtigung des Glücks gestellt. Und dass gerade in unserer heutigen heterogenen Lebenswelt das interdisziplinäre Interesse am Glück größer denn je ist, nimmt nicht Wunder. Biologen, Psychologen, Soziologen, Kulturanthropologen, Staats- und Wirtschaftstheoretiker liefern wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit der Thematik, Esoteriker jedweder Couleur bieten zahllose Ratgeber feil – die Publikationsflut ist unüberschaubar.
Die Frage nach dem Wesen und der Erreichbarkeit des Glücks – nach seiner subjektiven, sozialen oder gar ethischen Komponente, nach seiner materiellen oder seelischen Basis – ist und bleibt eine der großen Fragen der Menschheitsgeschichte und damit eine der zentralen Themen der Literatur, die der existentiellen, sich systematischen Begrifflichkeiten widersetzenden Erfahrung des Glücks durch ihre ganz eigene ästhetische Erkenntnisform auf die Spur kommt. Das Glück (in) der Literatur ist also eine für uns prädestinierte Angelegenheit. Als Literaturwissenschaftler können wir herausfinden und aufzeigen, welche spezifischen Darstellungs- und Reflexionsmodi die Literatur für die Auseinandersetzung mit dem Thema Glück bereit hält und inwiefern diese Modi epochenspezifisch geprägt sind.
In einem einführenden ersten Teil des Seminars werden wir uns zunächst mit den wichtigsten philosophischen Glücksdefinitionen von der Antike bis zur Aufklärung vertraut machen, damit wir im Rahmen der Textanalysen und -interpretationen auf eine konsistente theoretische und terminologische Basis zurückgreifen können. Im zweiten Teil werden wir die Glücksdarstellungen in ausgewählten Texten untersuchen und entsprechende philosophische Reflexionen bedarfsweise heranziehen. In der diachronen Perspektive des Seminars wird der Blick auf die epochenspezifischen Hintergründe der verschiedenen Glückskonzeptionen geschärft. Das Textkorpus reicht von der Aufklärung über die Romantik, den Realismus und die Klassische Moderne bis hin zur unmittelbaren Gegenwart, von Gellerts Leben der schwedischen Gräfin von G*** (1747) über Goethes Die Leiden des jungen Werthers und Eichendorffs Aus dem Leben eines Taugennichts (1826) zu Thomas Manns Der Wille zum Glück (1896) und schließlich zu Anna Weidenholzers Roman Weshalb die Herren Seesterne tragen (erscheint im September 2016).
Voraussetzungen für die Teilnahme am Seminar sind der Wille zu regelmäßiger Anwesenheit und aktiver Mitarbeit, die intensive analytische Lektüre der Seminargegenstände, die Erledigung der wöchentlichen Hausarbeiten sowie solide literaturgeschichtliche Grundkenntnisse.
Folgende Lektüren werden als Kopiervorlage im Seminarapparat in der Institutsbibliothek bereitgestellt:
Gebr. Grimm: Hans im Glück
Hugo von Hofmannsthal: Das Glück am Weg
Thomas Mann: Der Wille zum Glück
Ders.: Ein Glück
Folgende Texte empfehle ich zur Anschaffung:
Gottfried Keller: Der Schmied seines Glücks (Reclam)
Anna Weidenholzer: Weshalb die Herren Seesterne tragen (erscheint im September 2016, bitte in der Buchhandlung vorbestellen)
Folgende Texte werden in Auszügen gelesen, sollten aber in der Handbibliothek eines Literaturwissenschaftlers nicht fehlen:
Christian Fürchtegott Gellert: Leben der schwedischen Gräfin von G*** (Reclam)
Johann Wolfgang v. Goethe: Die Leiden des jungen Werthers (Reclam)
Joseph von Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts (Reclam) |