French Theory
Keine Literatur- und Medienwissenschaft, keine Sprach- und Kulturkritik und keine Gesellschaftstheorie ohne »French Theory«. Dabei sagt das Label es schon: Irgendetwas stimmt nicht mit der weltberühmten Theorie. Ist sie überhaupt französisch – oder eher eine Erfindung US-amerikanischer Eliteuniversitäten nach ihrer großer Zeit?
Der Begriff der French Theory ist verbunden mit den großen Umbrüchen im Denken und Leben, die sich in den westlichen Gesellschaften ungefähr zwischen den 1950er und 1980er Jahren abspielen. Begriffe wie Poststrukturalismus und Dekonstruktion, Diskursmacht und Postmoderne verbinden sich mit ihr ebenso wie die großen Namen der französischen Philosophie des 20. Jahrhunderts: Louis Althusser, Jacques Lacan, Michel Foucault, Jacques Derrida, Hélène Cixous, Gilles Deleuze, Luce Irigaray, Julia Kristeva, Roland Barthes, Jean Baudrillard, Jean-François Lyotard, Jacques Rancière, Étienne Balibar etc. etc. Der Pariser Verlag Minuit erlebt seinen Aufstieg mit diesen Denkern, die sich in den 1960er/1970er Jahren um Philippe Sollers legendäre Avantgarde-Zeitschrift Tel Quel versammeln. Theorie wird zum Feld gesellschaftlicher Aushandlung und zu einer Lebenshaltung. Der sogenannte "linguistic turn" in den Geistes- und Sozialwissenschaften ist ohne French Theory kaum denkbar. Während schließlich der Stern des poststrukturalen französischen Denkens in Frankreich ab den 1980er Jahren sinkt, sollte es auf die entstehende kritische Bewegung in den USA erheblichen Einfluss haben (etwa auf gender und postcolonial studies), was sich mit Namen wie Gayatri Chakravorti Spivak, Edward W. Said oder Judith Butler verbindet. In Deutschland verwehrt ihr die Frankfurter Schule aus Grundsatzvorbehalten (nie mehr Nietzsche! nie mehr Heidegger!) lange den Eintritt in das Feld der kritischen Theorie, gleichwohl bildet sich auch in Deutschland ein Milieu der French Theory, insbesondere um den Berliner Merve-Verlag herum.
Wir werden uns nicht mit der ganzen Breite der French Theory beschäftigen können, sondern sorgfältig ausgesuchte Lektüren vornehmen, die sich vor allem um zwei Denker, nämlich Michel Foucault (Epistemologie) und Jacques Derrida (Dekonstruktion) gruppieren, um Grundprobleme der kritischen Theorie zu erarbeiten: Aus welchen Fragen ist das poststrukturalistische Denken entstanden – und welche Deutungen wurden ihm angetragen? In welchem Verhältnis steht French Theory zu den gesellschaftlichen Veränderungen der westlichen Gesellschaften nach dem 2. Weltkrieg – und was bleibt für uns Gegenwärtige wichtig an ihr? Neben unsere Lektüren treten Gastvorträge von herausragenden Spezialistinnen und Spezialisten, die Hintergründe, Genealogien und Rezeptionsprozesse beleuchten.
Gastvorträge:
Cord Riechelmann (Berlin):
»Strukturalismus (Lévi-Strauss/Althusser/Lacan)«
Prof. Dr. Judith Kasper (Goethe-Universität Frankfurt am Main):
»Roland Barthes«
Dr. Onur Erdur (Humboldt-Universität zu Berlin):
»Die kolonialen Wurzeln der French Theory«
Prof. Dr. Wolfgang Asholt (Humboldt-Universität zu Berlin):
»Von der Literatur- zur Theorie-Avantgarde: Tel Quel und die French Theory«
Prof. Dr. Karlheinz Stierle (Universität des Saarlandes):
»Die Gruppe Poetik und Hermeneutik und die ‚Franzosen‘: deutsch-französische Theoriegeschichte(n)« |