Kommentar |
Über zwei Jahrzehnte hat Johann Wolfgang von Goethe an einer literarischen Gesamtdarstellung seines Lebens gearbeitet. Die Schrift, die unter dem programmatisch mehrdimensionalen Titel „Dichtung und Wahrheit” bei Cotta in Tübingen erschienen ist, ist zwar nur ein Teil dieses Projekts, aber sowohl im Hinblick auf die autobiographische Deutung des eigenen Lebens als auch mit Blick auf seine Wirkungsgeschichte von besonderer Signifikanz. Goethe thematisiert seine Herkunft aus einer Patrizierfamilie, beschreibt Erfahrungen und Prägungen seiner Kindheit und Jugend in der Freien Reichsstadt Frankfurt am Main, reflektiert die Jahre seines Studiums in Leipzig und Straßburg und seinen Weg zur Literatur. Indem die Lebensbeschreibung mit seinem Aufbruch nach Weimar schließt, bringt sie die Jahre zwischen 1749 und 1775 zur Darstellung.„Dichtung und Wahrheit” verfolgt nicht nur das Ziel, wie Goethe selbst formuliert hat, sich in sich „selbst historisch zu bespiegeln”. Bereits Siegfried Lenz konstatierte, dass hier „ein Ich sich in allen Beziehungen und Möglichkeiten deutet” und somit „auch die anderen” und „zugleich seine Zeit” zu verstehen sucht.
Mit der gemeinsamen Lektüre nähert sich das Seminar einerseits der Lebensgeschichte Goethes (als Entwicklungsgeschichte) an, um die Interdependenz von individuellem Leben und zeitgeschichtlichem Kontext betrachtend zu verstehen; andererseits sollen grundlegende Fragen der Autobiographie als literarischer Gattung diskutiert werden. |