Kommentar |
Um 1900 ist die erste Phase der historisch-gesellschaftlichen Modernisierung Europas bereits abgeschlossen. Die kollektive Gefühlslage ist von einer in dieser Form neuen Pluralisierung und Widersprüchlichkeit bestimmt: Fortschrittsoptimismus, Technikbegeisterung, Emanzipationsbewegungen und Dynamisierung aller Lebensbereiche stehen diffuse Ängste, Unsicherheit und der Eindruck gegenüber, sich in einer Phase der Auflösung, der Erschöpfung, des kulturellen Niedergangs zu befinden.
Der Terminus ›Fin de Siècle‹ (französisch: Ende des Jahrhunderts) hat sich in der Germanistik als literarische Epochenbezeichnung weitgehend durchgesetzt, weil er neutraler erscheint als etwa Jugendstil, Ästhetizismus, Impressionismus oder Symbolismus und umfassender als Wiener, Münchner oder Berliner Moderne. Schon die Zeitgenossen verbanden ›Fin de Siècle‹ oft mit ›Décadence‹ (Verfall), so dass dieser Begriff das Spätzeitliche, die Endzeitstimmung um 1900 betont.
Den psychologischen, insbesondere aber den ästhetischen Konsequenzen dieses Lebens- und Epochengefühls wollen wir mit Blick auf eine Reihe repräsentativer Texte aus allen drei Hauptgattungen nachgehen: Im Mittelpunkt des Seminars stehen Gedichte von Stefan George (darunter den Zyklus Algabal) und Rainer Maria Rilke, Arthur Schnitzlers Einakter-Zyklus Anatol und Frank Wedekinds Hochstapler-Komödie Der Marquis von Keith sowie Thomas Manns Erzählung Tristan und Franziska zu Reventlows Schlüsselroman Herrn Dames Aufzeichnungen. |
Literatur |
Primärliteratur (verpflichtend anzuschaffen):
Arthur Schnitzler: Anatol. Anatols Größenwahn. RUB 19325. 6.80 Euro; Thomas Mann: Frühe Erzählungen 1893-1912. In der Fassung der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe. Fischer Taschenbuch 90405 (18 Euro). Weitere Texte stehen zu Semesterbeginn in elektronischer Form zur Verfügung!
Sekundärliteratur zur Einführung: Philip Ajouri: Literatur um 1900: Naturalismus, Fin de Siècle, Expressionismus. Berlin: Akademie-Verlag 2009. |