Kommentar |
Seit etwa einem Jahrzehnt sind Historiker in den USA, Deutschland, Großbritannien, den Niederlanden usw. dabei, die siebziger Jahre aus dem Schatten der "revolution&aumären" sechziger und der "neoliberalen" achtziger Jahre zu ziehen. Sie weisen darauf hin, dass die "Kulturrevolution" der Sixties und die sozialpolitischen Änderungen im Bürger-Staat-Verhältnis erst im anschließenden Jahrzehnt alle Ecken der westlichen Gesellschaften erreichten. Außerdem setzten sich die wirtschaftliche Umstrukturierung und die sozialen Umbrüche, die oft mit den achtziger Jahren assoziiert werden, in Wirklichkeit in vielen westlichen Gesellschaften schon in den siebziger Jahren durch.
Die Deutungsangebote zu den Seventies sind aber noch sehr unterschiedlich. Der Radikalismus und Linksterrorismus jener Jahre gab manchem Historiker Anlass, von einem Roten Jahrzehnt zu sprechen, während andere lieber die dominierende Rolle der Sozialdemokratie, insb. in der Bundesrepublik, in den Mittelpunkt stellen. Wie dem auch sei, das Jahrzehnt war in Amerika, Deutschland, den Niederlanden und vielen anderen Gesellschaften ohne Zweifel eine Zeit unvergleichbarer sozialer und kultureller Wandlungen, die sehr oft von staatlicher Seite unterstützt oder sogar initiiert wurden.
Ganz klar ist auch, dass viele Wissenschaftler die Ära als Krisenzeit betrachten. Sie deuten dabei auf die erste Ölkrise 1973 und den Niedergang vieler tradierter Industriezweige in Westeuropa und den USA. Die Unfähigkeit der Regierenden, dem etwas entgegenzusetzen, führte damals bereits zu einer Debatte über die Krise des Regierens und zu Zweifeln am sozialen Fürsorgestaat. Auch in kultureller Hinsicht wird das Jahrzehnt oft als krisenhaft angesehen: der britische Historiker Tony Judt nannte es "the most dispiriting decade of the twentieth century". Sein amerikanischer Kollege Bruce Schulman sprach dagegen viel positiver vom "neuen informellen Sozialleben" und von einer Kultur der Neugierde, Seelensuche, Ironie und Sensibilität.
Konsensfähig scheint die These, dass sich während dem Jahrzehnt eine Tendenzwende in Richtung neue Modelle des Regierens und des Wirtschaftslebens vollzog. Neoliberalismus, Sicherheitsdenken und Wertekonservatismus - Grundideen, die bis zum heutigen Tag den Ton angeben - fingen an, die Tagesordnung in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur zu bestimmen. In dieser Hinsicht waren die Seventies auch die Schwelle zur Gegenwart.
In diesem Oberseminar werden diese neuen Einsichten vorgestellt und kritisch diskutiert, nicht nur mithilfe geschichtswissenschaftlichen Publikationen sondern auch anhand exemplarischer Musikstücke, Filme, Romane und weiterer Kunstwerke. Siehe auch:
http://www.zeithistorische-forschungen.de/Portals/_ZF/documents/pdf/2006-3/Pekelder_2011.pdf |