Kommentar |
In diesem Seminar versuchen wir, uns der Shoah aus einer ungewöhnlichen Perspektive anzunähern: Im Zentrum der gemeinsamen Textarbeit stehen Traumprotokolle, Träume in Autobiographien und literarische Traumfiktionen, die von der nationalsozialistischen Massenvernichtung handeln. In einer vergleichenden Analyse erarbeiten wir uns bekannte und weniger bekannte Textpassagen aus unterschiedlichen Sprach- und Kulturräumen.
„In Auschwitz träumten wir nicht, wir delirierten”, sagt Charlotte Delbo im zweiten Teil ihrer Roman-Trilogie über ihre traumatischen Erfahrungen. „Von Auschwitz lässt sich nicht erzählen, allenfalls in Form eines Traums”, ist die These von Vercors, der als einer der ersten Nicht-Deportierten versucht, das Grauen der Vernichtungslager aus dem Untergrund heraus literarisch in Worte zu fassen. Überlebende wie Primo Levi, Anna Langfus oder Jorge Semprún schreiben von wiederkehrenden Alpträumen, in denen sich das Leben nach dem Konzentrationslager als erschütternde Täuschung entpuppt. Robert Antelme oder Cordelia Edvardson erzählen aus dem Inneren einer Lagerrealität, wo der schmale Grat zwischen Leben und Tod derart brüchig wird, dass Halluzination, Delirium und Agonie auch die Grenzen zwischen Traum- und Wacherleben auflösen. Während für Jean Cayrol der Traum im Lager einen zeitweiligen Fluchtraum bildet, sehen Schriftsteller nachfolgender Generationen in ihm häufig einen Ort, an dem sie den Toten begegnen oder ihnen eine Stimme verleihen können. Mitunter allerdings verlagern sie gar die gesamte eigene Existenz in die Träume der Toten hinein. Damit stellen sie die Wirklichkeit eines Lebens nach der Shoah grundsätzlich in Frage.
Ziel des Seminares ist es, das eindrückliche Spektrum an Motiven und Erzählweisen sichtbar zu machen, die eingesetzt werden, um literarisch an die Shoah zu erinnern. Dabei gehen wir von folgender Arbeitshypothese aus: Die Vieldeutigkeit und Widersprüchlichkeit des Traums, sein unsicherer Wirklichkeitsstatus und der ästhetische Eigensinn, mit dem Wahrnehmungen und Erfahrungen in beunruhigende Bilder verdichtet werden, machen den Traum zu einem Erzählverfahren, mit dem die Grenzen des Darstellbaren ausgelotet werden.
Zu Beginn des Seminars wird ein Reader mit ca. 40 Texten und Textausschnitten zum Selbstkostenpreis zur Verfügung gestellt.
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Literatur |
Als vorbereitende Lektüre empfiehlt sich
Primo Levi: Se questo è un uomo, dt. Ist das ein Mensch, bes. Kapitel 5 „Le nostre notti” / „Unsere
Nächte”.
Primo Levi: La tregua, dt. Die Atempause, bes. das Schlusskapitel „Il risveglio” / „Das Erwachen”.
Jean Cayrol: Lazare parmi nous, dt. Lazarus unter uns, bes. Kapitel: „Les rêves
concentrationnaires” / „Konzentrationslagerträume”.
Alle drei Bücher (und viele weitere zum Thema) finden sich in einem Seminarapparat im Sekretariat der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft. |