Senecas Dramen, die einzigen vollständig erhaltenen römischen Tragödien, prägten jahrhundertelang das europäische Theater mehr als ihre griechischen Vorbilder. Kein Geringerer als William Shakespeare orientierte sich vor allem an Seneca, und ein Philologe der Renaissance stellte die Werke des Römers in mancher Beziehung gar über die der attischen Tragiker. Im Urteil späterer Zeit hielten sie allerdings gerade dem Vergleich mit dem griechischen Drama nicht stand; vor allem Vorwürfe wie Uneinheitlichkeit, Effekthascherei und holzschnittartige Personencharakterisierung wurden des öfteren erhoben. Bis heute ist nicht einmal sicher, ob Senecas Stücke überhaupt zur Bühnenaufführung bestimmt waren oder ob wir in ihnen nicht vielmehr markante Beispiele eines besonderen literarischen Genus haben, des Lese- bzw. Rezitationsdramas. All diesen Fragen möchte die Vorlesung in umfassender Interpretation möglichst umfangreicher Textpartien nachgehen.