Kommentar |
Im Jahre 1884 wurde die spätantike lateinische Literatur durch einen schönen Fund bereichert: Man entdeckte in der Klosterbibliothek des italienischen Arezzo einen Codex (dementsprechend Codex Aretinus 405), der ein itinerarium (Reisebericht) enthielt. Eine Frau mit Namen Egeria (oder Aetheria – die Form ist nicht ganz klar) beschreibt darin ihre Pilgerfahrt, die sie in den Jahren 381 bis 384 n.Chr. in das Heilige Land, nach Syrien und auf den Sinai unternommen hatte. Damals war das Römische Reich noch groß genug, daß Christen, die sich wie Egeria für die wichtigen Stätten der biblischen Religion interessierten, ein solches Unternehmen wagen konnten, ohne sich nennenswerter Gefahr auszusetzen und ohne dabei die Grenzen unterschiedlicher Herrschaftsgebiete zu passieren. Keine Geringere als Kaiserin Helena, die Mutter des ersten christlichen Kaisers Konstantin, hatte diesen „Pilgertourismus” in den römischen Nahen Osten einige Jahrzehnte zuvor begründet.
Mit großem inneren Engagement, umfassender Kenntnis der biblischen Texte und viel Freude am Detail beschreibt Egeria ihre Reisestationen. Wir erhalten ausführliche Berichte über Kirchen und Klöster, über ihre Besteigung des Sinai ebenso wie über das Jerusalem der damaligen Zeit. Von außerordentlichem Wert für unsere Kenntnis der frühen christlichen Liturgie sind ihre Schilderungen der dort gefeierten Feste (Geburt Jesu, Darstellung des Herrn, Fastenzeit, Karwoche und Ostern).
Da der Codex einige Textlücken aufweist, bleibt manches unklar. So kann schon Egerias Herkunft lediglich aus anderen Quellen, die sich auf ihren Bericht beziehen, und aus indirekten Angaben und sprachlichen Eigentümlichkeiten im Text selbst erschlossen werden. Erwogen wurde in der Forschung eine Herkunft aus dem nordwestlichen Spanien (Galicien), für wahrscheinlicher gehalten wird heute, daß sie aus dem südwestlichen Gallien stammte.
Von besonderem Interesse für diese Veranstaltung, die sich ja dem sprachgeschichtlichen Modul zuordnet, ist Egerias Sprache. Sie ist ein bedeutendes Zeugnis der gebildeten lateinischen Umgangssprache ihrer Zeit. Der Text ist durchweg einfach und ohne rhetorischen Aufputz strukturiert und daher ohne großen Aufwand verständlich. Charakteristische semantische und syntaktische Erscheinungen deuten bereits auf die Entwicklung des spätantiken Latein zum Romanischen hin. In gemeinsamer Lektüre möglichst vieler Partien soll auf die sprachlichen Eigenheiten und die sachlichen Hintergründe besonderes Augenmerk gelegt werden. |
Literatur |
eine Bibliographie wird in der ersten Sitzung ausgeteilt; zur Einführung: http://www.egeria-project.eu
maßgebliche Ausgabe: Egérie: Journal de voyage (Itinéraire). Introduction, texte critique, traduction, notes, index et cartes par Pierre Maraval (Paris 1982, Ndr. 2002)
deutsche Übersetzungen mit Kommentar: Aetheria / Egeria: Reise ins Heilige Land. Lateinisch-deutsch. Hrsg. von Kai Brodersen (Berlin / Boston 2016; Sammlung Tusculum); Egeria: Itinerarium / Reisebericht. Mit Auszügen aus Petrus Diaconus: De locis sanctis / Die heiligen Stätten. Lateinisch-deutsch. Übersetzt und eingeleitet von Georg Röwekamp unter Mitarbeit von Dietmar Thönnes (3. Aufl. Freiburg 2017)
zur Verfasserin: Daniel Groß: Egeria, in: Der Neue Pauly, Supplementband 7: Die Rezeption der antiken Literatur. Kulturhistorisches Werklexikon. In Verbindung mit Brigitte Egger herausgegeben von Christine Walde (Stuttgart 2010), 271-276; Ursula Reutter: Egeria (Silvia), in: Oliver Schütze (Hrsg.): Metzler-Lexikon antiker Autoren (Stuttgart 1997), 226 f.; Hagith Sivan: Who Was Egeria? Piety and Pilgrimage in the Age of Gratian, Harvard Theological Review 81 (1988), 59-72
zur Sprache: Einar Löfstedt: Philologischer Kommentar zur Peregrinatio Aetheriae. Untersuchungen zur Geschichte der lateinischen Sprache (Uppsala 1911, Ndr. Darmstadt [WBG] 1970); Veikko Väänänen: Le journal-épı̂tre d’Égérie (Itinerarium Egeriae). Étude linguistique (Helsinki 1987); allgemein zum Vulgär- und Spätlatein: Veikko Väänänen: Introduction au latin vulgaire (4. Aufl. Paris 2012)
zum spätantiken Umfeld: Alexander Demandt: Geschichte der Spätantike. Das Römische Reich von Diocletian bis Justinian, 284 – 565 n.Chr. (3. Aufl. München 2018) |
Zielgruppe |
Die Veranstaltung richtet sich außer an diejenigen, die Interesse an dieser späten Stufe der antiken lateinischen Sprachgeschichte haben, auch an Historiker, Romanisten und Theologen mit Interesse für Kirchen- und Liturgiegeschichte. |