Kommentar |
Dass sich der pikareske Roman in der Frühen Neuzeit als literarische Gattung in Spanien entwickelt, verdankt sich einer tiefen Krise auf sozialer, ökonomischer und konfessioneller Ebene im 16. und 17. Jahrhundert. Insbesondere die Inquisition und die Situation der Zwangskonvertiten – der Conversos – als Außenseiter des Gesellschaftssystems werden von der Literaturwissenschaft als verantwortlich für die Ausprägung des Pikaroromans angesehen. Der Schelm, der sich über Zwänge der Gesellschaft hinwegsetzt, um überlebensfähig zu sein, repräsentiert dabei den Wunsch der unterprivilegierten Bevölkerungsschichten, der Gesellschaft mit ihren Zwängen, der korrupten Justiz und dem moralisch fehlgeleiteten Klerus zu entkommen. Überblicksartig werden die zentralen Werke, die am Anfang der Entstehung der Gattung zu verorten sind (Lazarillo de Tormes (anonymer Verfasser), Mateo Alemáns Guzmán de Alfarache und Francisco de Quevedos Historia de la vida del Buscón), einer Betrachtung unterzogen – auch, um die Relevanz der jeweiligen Übersetzungen für den deutschsprachigen Schelmenroman mit dessen Entwicklungstendenzen besser nachvollziehen zu können. Dabei ist es notwendig, eine Gattungsdefinition zu versuchen, die auch die Abgrenzung von verwandten Gattungen – zu nennen wären etwa der Schwank- und der Bildungsroman – unternimmt. Mit besonderem Augenmerk auf Grimmelshausens überaus bekannten Schelmenroman Simplicissimus Teutsch wollen wir im Proseminar ein umfassendes Bild der Barockepoche erstellen – mit allen Widersprüchen (Gewissenlosigkeit und Brutalität stehen fundamentalen moralischen und ethischen Einsichten gegenüber; Scheinhaftigkeit begegnet – oft schockhafter – Einsicht in das reale Wirken der Welt; Grobianismus, Mundart und Dialekt treten anspruchsvolleren philosophischen Gedankengängen, Zitaten aus den gängigen Lexika der Zeit und Fremdwortgebrauch gegenüber), die sich mit dem Schlagwort der barocken Antithetik nur unzureichend beschreiben lassen. Mittels des im Roman Geschilderten lassen sich nicht nur Details der Kriegsführung und des Alltags der Soldaten während des Dreißigjährigen Krieges anschaulich nachvollziehen, auch zentrale kultur- und geistesgeschichtliche Entwicklungen (vom gelebten Aberglauben bis zur Aberglaubenskritik) werden deutlich.Da die Wirkung auf den Leser – dies sowohl im Hinblick auf die erzeugte Komik als auch die Funktion der moralischen Didaxe – im pikarischen Roman durch die Erzählperspektive und die Erzählhaltung maßgeblich beeinflusst wird, da nur so die Doppelbödigkeit des Erzählten zu Tage treten kann und die Disparität zwischen ursächlich naivem Verhalten und nachträglicher Einsicht des Protagonisten für den Leser deutlich wird, muss eine erzähltheoretische Untersuchung eine Etappe in der Auseinandersetzung mit dem Roman bilden. Neben der emblematischen Deutungsweise und dem Versuch, den umfangreichen Roman Grimmelshausens mittels der Lehre des mehrfachen Schriftsinns zu deuten (also mittels Allegorese), werden wir uns auch mit der Anwendbarkeit der Zahlenmystik und der Möglichkeit astrologischer Analogieschlüsse im Hinblick auf die Romanstruktur (nach Weydt und Haberkamm) auseinanderzusetzen haben. Neben dem Simplicissimus werden zwei weitere Romane Betrachtung finden – Grimmelshausens Trutz Simplex oder Lebensbeschreibung der Ertzbetrügerin und Landstörtzerin Courasche und Christian Reuters Schelmuffsky.
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