Kommentar |
Wenn wir Gegenwartsliteratur hören, meinen wir alle zu verstehen was gemeint ist: nämlich mehr oder weniger neulich erschienene literarische Texte. Fragt man allerdings genauer nach, was denn Gegenwartsliteratur sei und wie sie sich von 'Nicht-Gegenwartsliteratur' unterscheidet, fällt die Antwort schon schwerer. Allein die Frage ab wann Texte zur Gegenwartsliteratur zählen, ist nicht so einfach zu beantworten.
Darüber hinaus ist es keineswegs ausgemacht, was Gegenwart ist oder was Gegenwart sein soll. Auch Philosophen tun sich grundsätzlich schwer damit, Gegenwart zu bestimmen. Nach Pascal verleugnen wir unsere Gegenwart (le temps présent) immer, obwohl sie die einzige Zeitform sei, die dem Menschen bestimmt ist. Hegel hadert mit dem „Jetzt” des Augenblicks, der immer dann vorbei ist, wenn man ihn ausspricht, Jacques Derrida entlarvt gar die Geschichte des Abendlandes als ungerechtfertigte Präsenzmetaphysik und Giorgio Agamben zerteilt die Zeit der Gegenwart, so dass wir selbst in der höchsten Form der Anwesenheit, der Parusie, eine Zergliederung der Zeit vorfinden (Parusie ist etymologisch auf Para-ousia zurückzuführen, was wörtlich Neben-Sein bedeutet). Von der Philosophie ist also keine große Hilfe zu erwarten.
In diesem Seminar befragen wir deshalb die Gegenwartsliteratur nach ihrem Gegenwartsbezug. Dazu gehen wir zunächst den verschiedenen literaturwissenschaftlichen Definitionsversuchen nach, wie den Gegenwartsliteratur zu bestimmen sei und fragen uns dann, in welcher Weise Erzähltexte auf das Problem von Gegenwart Bezug nehmen. Weil Erzählen ja immer doppelt mit der Zeitlichkeit umgeht, könnten Erzählungen auch dafür geeignet sein, ihre ganz eigenen Antworten auf die Fragen nach Gegenwart oder Gegenwärtigkeit zu geben. Anhand von Texten von Judith Hermann, Dimitré Dinev, Wolfgang Herrndorf und Saša Stanišic wollen wir diesen Gegenwartsbezügen nachspüren. |
Literatur |
Bitte besorgen Sie sich folgende Ausgaben:
Judith Hermann: Nichts als Gespenster, ISBN: 978-3-596157983
Dimitré Dinev: Ein Licht über dem Kopf, ISBN: 978-3-442735204
Wolfgang Herrndorf: Diesseits des Van-Allen-Gürtels, ISBN: 978-3499247774
Saša Stanišic: Fallensteller, ISBN: 978-3442715794 |