„Grand Paris“ ist eines der größten Infrastrukturprojekte in Europa. Die französische Hauptstadt, bislang eingekapselt durch die Ringautobahn des „boulevard périphérique“, soll mit den sie umgebenden suburbanen Gebieten verbunden werden. Paris intra-muros und die Banlieue sollen zusammenwachsen: „opposer le nouage au zoning“ lautet das kühne urbanistische Credo. Dabei sollen neue Verkehrsverbindungen entstehen, administrative Grenzen fallen und viel Raum für nachhaltiges Wohnen und Arbeiten entstehen.
Die Überwindung segregativer Strukturen und konkreter Grenzen setzt zwar politische-administrative Neuordnungen und Infrastrukturmaßnahmen voraus. Der neue Raum des Grand Paris bleibt jedoch ein rein organisationsfunktionales Artefakt, solange nicht parallel dazu eine neue raumbezogene Identität entwickelt wird. „L’image mentale de Paris s’arrête au boulevard périphérique, Paris en grand n’existe pas encore“, schreibt der Stadtplaner Roland Castro. Die Herausforderung ist mithin, die administrativ-räumliche Neuordnung in alltagsweltliche kognitiv-emotionale Repräsentationen zu überführen. Aus der Planungsregion muss eine Wahrnehmungsregion werden.
An diesem Punkt soll die Arbeit unseres kultur- und medienwissenschaftlich konturierten Seminars ansetzen: Raumbezogene Identitäten werden in hohem Maße von medialen Darstellungen beeinflusst. Und seit einigen Jahrzehnten hat der Spielfilm die Grenzen des boulevard périphérique überschritten und begonnen, im Modus fiktionalen Probehandelns Grand Paris als alltagsweltliche Struktur zu entwerfen. Die Filme, mit denen wir uns beschäftigen werden, brechen mit den Klischees klassischer Paris-Darstellungen: Sie entwerfen ein Imaginaire du Grand Paris, das mal utopische, mal dystopische Züge annimmt. Die Filmhandlung wird dynamisiert dadurch, dass die Protagonisten Grenzgänger sind, zwischen Zentrum und Peripherie oszillieren und dabei den Raum des Grand Paris als ihren sozialen Raum und Projektionsfläche von Identität erfahren: „Les territoires s’interpénètrent comme les personnages circulent. Ce Grand Paris propose de nouvelles images et alimente un autre imaginaire. » (Thierry Paquot)
Auf Grundlage eines breiten Filmkorpus möchten wir dem Chronotopos Grand Paris nachspüren und untersuchen, wie Grenzen zwischen Zentrum und Peripherie hier reflektiert werden.
Schließlich soll die gemeinsame Arbeit dazu beitragen, Techniken der Text- und Filmanalyse zu vertiefen und den Umgang mit Sekundärliteratur (Bibliografieren, Exzerpieren) an konkreten Beispielen zu festigen. Insofern schließt das Proseminar nahtlos an die Lernziele der Einführungsveranstaltung (Methodische Grundlagen) an. |