Kommentar |
Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein war Jules Michelets (1798-1874, bis zum Staatsstreich Louis-Napoléons Leiter der historischen Abteilung des Nationalarchivs und Geschichtsprofessor am Collège de France) vielbändige Histoire de France zusammen mit seiner monumentalen Histoire de la Révolution das wohl populärste und einflussreichste Geschichtswerk Frankreichs. Abgefasst in einem ansprechenden literarisch-populären Stil unter Einbeziehung von gerade erst erschlossenem Quellenmaterial spiegelt es jedoch vor allem die Weltanschauung und die persönlichen politischen Ansichten seines Autors wider. An zeitgenössischer Kritik hatte es zwar nicht gemangelt, doch als unter den auf das Zweite Kaiserreich folgenden Republiken Darstellung und Interpretation sich nunmehr mit der offiziellen Lesart deckten, wurde Michelet gleichsam zum Geschichtslehrer der Nation und prägte das (nur für den wissenschaftlich Geschulten überprüfbare) Geschichtsbild ganzer Generationen. Selbst für neue Entwicklungen in der Geschichtsforschung wirkte er legitimationsstiftend, und manche methodologische Richtung – darunter die der École des Annales – berief sich auf Michelet.
In der Übung werden anhand diverser epochenübergreifender Auszüge tendenziöse Darstellungen und verfälschende Auslegungen in Michelets Hauptwerken präsentiert.
Eines seiner Nebenwerke, La Sorcière, eine Studie über die Hexenverfolgung, hat in jüngster Zeit eine Neuauflage erfahren. Es stützt sich jedoch auf fiktives Aktenmaterial aus einem nicht existierenden Archiv. Michelet war hier einem ungemein produktiven, und geschäftstüchtigen genialen Fälscher, Étienne Léon de Lamothe-Langon, aufgesessen, der zahlreiche apokryphe historische und zeitgenössische anonyme Memoiren verfasste, die auf breites Interesse in der Öffentlichkeit stießen und auch später noch Eingang nicht nur in populärwissenschaftliche Werke fanden. Eine Auswahl dieser erfundenen Memoiren bildet den zweiten Schwerpunkt, wobei der Frage nach einer dennoch möglichen historischen Aussagekraft und somit wissenschaftlicher Verwertbarkeit nachgegangen wird.
Abschließend wird eine kuriose Monographie aus dem Jahre 1951 vorgestellt werden, die selbst in wissenschaftlichen Bibliotheken zu finden ist und einen vom Verfasser nicht als frei erfunden erkannten Hintergrund zentraler historischer Ereignisse verbreiten wollte. Es werden Möglichkeiten aufgezeigt, dergleichen Fälschungen zu entlarven.
Eine Einfügung in das komplexe Thema der Übung findet in der ersten Sitzung statt. |