Johann Wolfgang Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werther aus dem Jahr 1774 gilt als Bestseller und einer der erfolgreichsten Romane der Literaturgeschichte. Zu diesem Erfolg trägt nicht zuletzt auch seine Gattung bei: Der monologische Briefroman nutzt die Möglichkeiten des Briefs, um das subjektive Bewusstsein des Schreibenden unmittelbar darzustellen und ihn so in einen Dialog mit den Rezipient*innen treten zu lassen. Mit dieser Erzähltechnik steht der Roman am Ende einer Entwicklung des Mediums Brief, die sich wiederum in der Literatur spiegelt – ab der Mitte des 18. Jahrhunderts kommt es zu einem regelrechten Boom der Gattung des Briefromans. Denn im 18. Jahrhundert verändern sich nicht nur die Rahmenbedingungen des Postwesens, auch der Brief selbst löst sich von den Vorgaben der Rhetorik und wird individueller. So wird die Forderung nach „Natürlichkeit” zentral für die Bestimmung eines idealen Briefs, beispielsweise in der Brieftheorie Christian Fürchtegott Gellerts, der Briefe als „freye Nachahmung des guten Gesprächs” definiert.
In diesem Proseminar widmen wir uns den vielfältigen Beziehungen zwischen Brief und Literatur in der Aufklärung. Dabei rücken Kommunikationsvorgänge am Beispiel von Briefwechseln zwischen Autor*innen ebenso in den Fokus, wie fiktive Leserbriefe in den sogenannten Moralischen Wochenschriften oder eher rhetorisch geprägte Versepisteln als Praktiken gelehrter Kommunikation. Am Beispiel der Briefromane Geschichte des Fräuleins von Sternheim von Sophie von La Roche und Goethes Die Leiden des jungen Werther wird der Brief als Medium der Empfindsamkeit betrachtet. Auch theoretische Abhandlungen über Briefe werden untersucht, ebenso die neuen Möglichkeiten, die das empfindsame Briefideal besonders für das Werk von Autorinnen bietet.
Das Seminar vermittelt am Beispiel der Verbindung von Brief und Literatur einen Überblick über die Literatur der Aufklärung und ihre sozialhistorischen Zusammenhänge. Dazu stehen sowohl ein breites Spektrum an literarischen Texten im Fokus als auch deren Publikationskontexte und Fragen der zeitgenössischen Literaturtheorie. Hierbei werden die in den Grundkursen erworbenen Kompetenzen literaturwissenschaftlicher Analyse und Interpretation vertieft. |