Kommentar |
Senecas Dramen, die einzigen vollständig erhaltenen römischen Tragödien, prägten jahrhundertelang das europäische Theater mehr als ihre griechischen Vorbilder. Kein Geringerer als William Shakespeare orientierte sich vor allem an Seneca, und ein Philologe der Renaissance stellte die Werke des Römers in mancher Beziehung gar über die der attischen Tragiker. Im Urteil späterer Zeit hielten sie allerdings gerade dem Vergleich mit dem griechischen Drama nicht stand; vor allem Vorwürfe wie Uneinheitlichkeit, Effekthascherei und holzschnittartige Personencharakterisierung wurden des öfteren erhoben. Bis heute ist nicht einmal sicher, ob Senecas Stücke überhaupt zur Bühnenaufführung bestimmt waren oder ob wir in ihnen nicht vielmehr markante Beispiele eines besonderen literarischen Genus haben, des Lese- bzw. Rezitationsdramas. Fest steht in jedem Fall, daß in diesen Dramen, immerhin verfaßt von einem der bedeutendsten ethischen Denker des Altertums, Fragen und Probleme der menschlichen Existenz zur Sprache kommen, die auch uns heute nach wie vor zu bewegen, ja zu erschüttern vermögen.
Eine der fesselndsten Tragödien Senecas ist ohne Zweifel seine Phaedra. Der tragische Grundkonflikt dieses Stücks – unmögliche und unerwiderte Liebesleidenschaft, die mit ihrem eklatanten Widerspruch zwischen Emotion und Vernunft letztlich zur (Selbst-) Vernichtung der Protagonisten führt – ist heute so aktuell wie zu Senecas Zeiten, und man muß sich ihm und den vielfältigen anderen Aspekten dieses Dramas mit ebenso vielfältigen Ansätzen nähern, will man ihm wirklich gerecht werden. |
Literatur |
eine ausführliche Bibliographie sowie Informationsmaterialien zur Aufführung werden digital bereitgestellt
zur Einführung: Gregor Maurach: Seneca. Leben und Werk (5. Aufl. Darmstadt, WBG, 2007); Villy Sørensen: Seneca. Ein Humanist an Neros Hof (3. Auflage München 1995; das dänische Original zuerst Kopenhagen 1976); Eckard Lefèvre (Hrsg.): Senecas Tragödien (Darmstadt 1978)
Gesamtausgaben und Kommentare: L. Annaei Senecae Tragoediae, rec. Otto Zwierlein (Oxford 1986, verb. Ndr. zuletzt 2009); Theodor Thomann: Seneca. Sämtliche Tragödien, lateinisch und deutsch (2 Bde.; Zürich / Stuttgart 1961 und 1969, 2. Aufl. von Bd. I Zürich / Stuttgart 1978)
einführend zur Inszenierungsproblematik: Christoph Kugelmeier: Die innere Vergegenwärtigung des Bühnenspiels in Senecas Tragödien (München 2007)
speziell zur Phaedra: Michael Coffey / Roland Mayer: Seneca, Phaedra (Cambridge 1990); Anthony J. Boyle: Seneca’s Phaedra (Liverpool 1987, Ndr. 1992); Eckard Lefèvre: Quid ratio possit? Senecas Phaedra als stoisches Drama, Wiener Studien 3 (1969), 131–160; Roland Mayer: Seneca, Phaedra (London 2002, Ndr. 2004); Hans Jürgen Tschiedel: Phaedra und Hippolytus. Variationen eines tragischen Konflikts (Diss. Erlangen / Nürnberg 1969); Clemens Zintzen: Analytisches Hypomnema zu Senecas Phaedra (Meisenheim 1960, zugl. Diss. Köln 1957); Otto Zwierlein,: Senecas Phaedra und ihre Vorbilder, Abhandlungen der Mainzer Akademie 1987, Nr. 5 (Stuttgart 1987); erweitert und vollständig überarbeitet unter dem Titel „Senecas ‘Phaedra’ und ihre Vorbilder nach dem Fund der neuen ‘Hippolytos’-Papyri“, in: Lucubrationes Philologae, hrsg. von Rainer Jakobi u.a.; Band I: Seneca (Berlin / New York 2004), 57–136 |