Kommentar |
Historische Semantik untersucht dem Verlauf der Geschichte folgend ebenso die Veränderung von Wortgebrauch – und demnach auch von jeweils aktueller Wortbedeutung – wie auch die Wandlung von Konzeptbildung – und demnach auch die jeweils aktuelle Konzeptgestalt. Sie basiert auf der nicht von allen Linguisten und Sprachtheoretikern geteilten Meinung, sprachliches Wissen sei von Weltwissen nicht zu trennen. Indem sie die Aufeinanderbezogenheit von Welt und Sprache nicht nur affirmiert, sondern vielmehr am konkreten und historischen Beispiel und dabei doch stets 'beispielhaft' verallgemeinernd thematisiert, zwingt historische Semantik sich selbst zu einem stetigen Gesichtspunktwechsel: Zum einen steht die sprachliche Realisation, der Signifikant – der semasiologische Aspekt – im Vordergrund, zum anderen eine die Welt strukturierende ebenso wie Welt schaffende Verbindung von Gedanken, das Signifikat – der onomasiologische Aspekt. Damit stehen also zwei Realitäten gleichermaßen im Zentrum historisch semantischer Untersuchung: Signifikant und Signifikat, sprachliches Zeichen und kognitives Korrelat, Wort und Konzept.
Hierfür ein Beispiel, das aus dem Proseminar Lektüre mittelhochdeutscher Texte bekannt sein dürfte: mhd. wîp entspricht - ganz wertneutral - dem Konzept 'verheiratete (oder: verwitwete) Frau'. Das gleiche gilt auch noch für den Bibelübersetzer Martin Luther im 16. Jahrhundert. In der Gegenwart wird der etymologische Nachfolger Weib dagegen als abwertend (pejorativ) aufgefasst. Wertneutral wird heute Frau verwendet, etymologischer Nachfolger von mhd. vrouwe, das im Mittelhochdeutschen für adelige Damen oder ebenfalls mit Macht ausgestattete Personifikationen vorbehalten war.
In die Historische Semantik will das Hauptseminar zum einen theoretisch-methodologisch einführen, indem die disziplinübergreifend auch in der Geschichtswissenschaft und Philosophie verfolgten verschiedenen Forschungszugriffe (so z.B. Wortgeschichte, Begriffsgeschichte, FRAME-Semantik) vorgestellt werden sollen. An ausgewählten Beispielen sollen dann die Modelle auch praktisch auf ihren heuristischen Wert für das Verstehen von Bedeutungswandelprozessen getestet werden. |
Literatur |
Fritz, Gerd: Historische Semantik (Sammlung Metzler 313), 2., aktualisierte Auflage, Stuttgart/Weimar 2006.
Müller, Ernst/Schmieder, Falko: Begriffsgeschichte und historische Semantik. Ein kritisches Kompendium (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2117), Berlin 2016.
Diess.: Begriffsgeschichte zur Einführung, Hamburg 2020. |