Kommentar |
Die Nachkriegszeit gilt als besonders spannende Phase der deutschsprachigen Lyrik, da sie von hoher Diversität und einem Nebeneinander von teils divergierenden Konstellationen geprägt ist. Während das Jahr 1945 als einschneidende politische Zäsur („Stunde Null”) wahrgenommen wird, bedeutet es für die Entwicklung der Lyrik nicht unbedingt einen radikalen Neubeginn. Man setzt Tendenzen der Weimarer Republik fort, wie beispielsweise in der Naturlyrik, oder knüpft an lyrische Traditionen an. Parallel entstehen unter dem Stichwort der „Trümmer- oder Kahlschlagliteratur” auch Gedichte, die eine Verknappung der durch die Nationalsozialisten missbrauchten Sprache sowie einen Gestus der Zurückweisung von Traditionen pflegen und so gegen die Verdrängung der NS-Verbrechen anschreiben. Auch die Rezeption der Exillyrik setzt ein. Ebenso werden in den späten 1940er und 50er Jahren Verfahrensweisen moderner Lyrik, die in der NS-Zeit als „entartet” verleumdet wurden, wieder aufgegriffen. Teilweise erfolgt ein Anschluss an avantgardistische Konzepte wie beispielsweise in der Konkreten Poesie. Die kulturell-literarische Entwicklung in der DDR ist wiederum eine andere, dort beeinflussen das Konzept des sozialistischen Realismus und die sogenannte Aufbauliteratur die lyrische Produktion der 50er Jahre.
So vielfältig wie diese lyrischen Verfahrensweisen sind auch die poetologischen Programme. Immer wieder stellt sich die Frage nach der adäquaten Thematisierung und Darstellung der existenziellen Erfahrungen von Krieg und Zivilisationsbruch. Theodor W. Adornos vielzitierter und häufig verkürzt rezipierter Satz, „nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch,” prägt die poetologische Debatte der 50er Jahre, man diskutiert den Stellenwert, die Funktion und die Möglichkeiten von Lyrik nach 1945. Auch die Auseinandersetzung mit der Shoah findet in der Lyrik statt, verbunden mit einer Politisierung der Literatur in den 60er Jahren. Vermehrt rücken in diesem Jahrzehnt lyrische Auseinandersetzungen mit der Wirklichkeit in den Fokus: Alltagseindrücke und die Positionierung des lyrischen Subjekts in einer sich rasch wandelnden Welt sowie die Auseinandersetzung mit modernen Massenmedien verändern das poetologische Selbstverständnis.
Vor diesen Hintergründen und Entwicklungen widmet sich das Seminar der Lyrik der späten 1940er, 50er und 60er Jahre. Wir untersuchen exemplarische Gedichte von kanonischen Autor:innen wie beispielsweise Bertolt Brecht, Nelly Sachs, Paul Celan, Ingeborg Bachmann, Ernst Jandl, Günter Eich, Ilse Aichinger und Hans Magnus Enzensberger. Diese werden in die jeweiligen Kontexte poetologischer Positionen und Debatten sowie literarhistorischer Entwicklungen eingeordnet. Hierbei werden die in Grundkurs 1 erworbenen Kompetenzen literaturwissenschaftlicher Lyrikanalyse und Interpretation vertieft, ebenso soll der Umgang mit Sekundärliteratur geschult werden. |