Kommentar |
„Der Begriff von einem ganzen Volke ist ein unendlich zusammengesetzter, unendlich verwickelter Begriff, wo man sich vor betrüglichen Abstractionen […] und zwanzig andern Wegen die Wahrheit zu verfehlen, nicht genug hüten kann”, schreibt Christoph Martin Wieland 1777 in seinen Gedanken über die Ideale der Alten. Die kritische Auseinandersetzung mit Vorurteilen nimmt eine zentrale Stellung innerhalb europäischer Aufklärungsdiskurse ein; neben Definitionen finden sich Reflexionen zu unterschiedlichen Typen, Herkunft und Strategien zur Überwindung von Vorurteilen. Dabei werden letztere als (noch) ungeprüfte Urteile aufgefasst, die einerseits zu Irrtümern führen, anderseits aber auch Orientierung bieten und eine stabilisierende Wirkung haben. In der Literaturwissenschaft ist es die Imagologie, die sich mit Stereotypen als verfestigten Zuschreibungen von Eigenschaften, ihrer Entwicklung und ihrer Funktion in Texten auseinandersetzt.
Im Seminar nehmen wir verschiedene Arten des Umgangs von literarischen Texten mit kollektiven Vorurteilen und Stereotypen in den Blick: Was sind Vorurteile? Welche Funktionen haben sie in den Texten, z.B. in Bezug auf die Figurenzeichnung? Werden sie im Text reproduziert oder kritisch reflektiert, vielleicht sogar ironisiert oder dekonstruiert? Die behandelten Texte zeigen verschiedene Formen des Umgangs mit Vorurteilen und Stereotypen.
Thematisch gruppieren sich die behandelten Texte um drei Themenkomplexe: anti-jüdische und antisemitische Vorurteile; nationale Stereotype, insbesondere in französisch-deutschen Beziehungen, und ihre Bedeutung für Europa-Bilder; Vorurteile und Stereotype in Auseinandersetzungen mit außereuropäischen Räumen auf der einen und Europa auf der anderen Seite. |
Literatur |
Behandelte Texte (Auswahl):
Gotthold Ephraim Lessing: Die Juden (1749)
Richard Cumberland: The Jew (1794)
Madame de Staël: De l’Allemagne (Über Deutschland, 1810)
Victor Hugo: Le Rhin (Der Rhein, 1840)
Heinrich Heine: u.a. Auszüge aus Deutschland. Ein Wintermärchen (1844), ausgewählte Gedichte
Gottfried Keller: „Die Berlocken” (in: Das Sinngedicht, 1881)
Max Frisch: Andorra. Stück in zwölf Bildern (1961) |