Kommentar |
Der Ursprung des europäischen Dramas liegt in der Liturgie, liegt im Heiligen. Seine szenische Struktur, seine Organisation in Stationen ist angelegt in der szenischen und dramatischen Struktur großer kirchlicher Festfeiern, die zugleich der memoria, der Erinnerung, der Wiedereinholung der Zeit dienen. Das Drama entsteht aus den Osterfeiern, den Weihnachtsfeiern, aus den lokalen Feiern großer Heiligenfeste. Anfangs von Priestern aufgeführt am Rande der Messe, verkompliziert sich und verselbständigt sich ihre textliche Gestalt und ihre Aufführung zunehmend. In dialektischem Wechselspiel dringen Momente der bösen, der teuflischen Anderwelt ins heilige Geschehen ein, die in Komik und Terror inszeniert werden. Diese duale Struktur des mittelalterlichen Dramas sprengt den Raum der Kirche: das Drama tritt in die öffentliche Feierräume der großen Städte, die Marktplätze vor allem, ein und etabliert sich auch in den Rollen der Schauspieler als Handlung der Laien, die die Zuschauer mitwirkend einbezieht. Die Vorlesung behandelt die verschiedenen Gattungen des mittelalterlichen Dramas (Osterspiel, Passionsspiele, Weihnachtsspiele, Heiligendramen etc.) in ihrer Entwicklung, die Entfaltung von erhabener und komischer Handlung, Ritualität und Sakralität, und schließlich den Entwurf von Gegenwelten in den städtischen Fastnachts- und Karnevalsspielen.
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