Kommentar |
Bitte beachten: Wegen eines Versehens bei der Raumplanung beginnt die Vorlesung erst am 24.04.2012!
In dieser Vorlesung geht es um die Frage, warum manche Texte (unter Umständen Jahrhunderte lang) im allgemeinen kulturellen Gedächtnis lebendig bleiben, andere dagegen (und das ist die Mehrheit) ins Vergessen sinken. Wie kommt es, dass die einen als lesenswerte Texte und/oder unverzichtbarer Bestandteil literarischer Bildung betrachtet werden, andere dagegen früher oder später aus dem kulturellen Gedächtnis, damit auch aus Schulbüchern und germanistischen Leselisten verschwinden und nur mehr von Bibliotheken und Literarhistorikern archiviert werden? Was erhält Texte am Leben? Wer legt eigentlich fest, dass wir Goethes ›Werther‹ auf jeden Fall, Gerstenbergs ›Ugolino‹ dagegen nicht unbedingt lesen müssen? Das sind Fragen der Kanonbildung. Die Antworten sollen in der Vorlesung weniger theoretisch erörtert als praktisch in Erfahrung gebracht werden: Für jede Epoche der neueren deutschen Literaturgeschichte werden stichprobenartig einzelne kanonisch gewordene Werke der Frage nach den möglichen Gründen ihrer Kanonisierung unterzogen. Ihre Analyse erfolgt jeweils in doppelter Perspektive: In historischer Perspektive wird gefragt, auf welche aktuellen zeitgenössischen Fragestellungen die Texte in ihrer eigenen Zeit antworteten, werden die Texte also in ihrem je eigenen historischen Kontext verständlich gemacht. In der zweiten, der Gegenwartsperspektive wird gefragt, ob und wenn ja welche Antworten und/oder ästhetische Erfahrungen diese Texte für heutige Leser bereithalten, ob und aufgrund welcher Voraussetzungen sie lebendige Bestandteile gegenwärtiger literarischer Erfahrung sein können (oder vielleicht auch nicht). Grundlage für die Auswahl der Stichproben sind vor allem die populären Instrumente oder Indices der aktuellen Kanonbildung, die das Leseverhalten des Durchschnittslesers steuern wollen, wie etwa Marcel Reich-Ranickis »Der Kanon«, die »Bibliothek der 100 Bücher« der Wochenzeitung »Die Zeit«, die »SZ-Bibliothek« der Süddeutschen Zeitung u.a. Daneben kommen natürlich auch germanistische Kanonisierungsversuche wie Wulf Segebrechts »Was sollen Germanisten lesen?« (3. Aufl. 2006), die Reclam-»Leseliste« von Sabine Griese u.a. (Stuttgart 1994) u.ä. sowie Leselisten germanistischer Seminare in den Blick. Die Auswahl der Stichprobe wird jeweils mit einer vergleichenden Betrachtung der Lesevorschläge eingeleitet, die in allen diesen Kanonisierungsversuchen für die jeweils in Rede stehende Epoche gemacht werden und deren Vergleich selbst schon aufschlussreiche Einsichten in bestimmte Mechanismen der Kanonbildung bieten. |