Kommentar |
Die Vorlesung führt in eine zentrale Phase der deutschen Literaturgeschichte ein, die 1770er und 1780er Jahre, genauer: in die avantgardistische Literatur im Vorfeld von Weimarer Klassik und Romantik, welche nicht mehr den aufklärerischen Mustern gehorcht, die in der Zeit immer noch sehr verbreitet sind. Der literarhistorische Wandel dieser Jahre ist in der Forschungsgeschichte lange recht einseitig gezeichnet worden: mal als Prozess der ‚Reifung‘, mal umgekehrt als Zeit des ‚Verfalls‘ zwischen den beiden Strömungen und Gruppenprogrammen ‚Sturm und Drang‘ und ‚Weimarer Klassik‘. Beide Betrachtungsweisen sind jedoch vereinfachend und wertbehaftet, so dass die Vorlesung bei der Rekonstruktion des Epochenzusammenhangs einen differenzierteren und neutraleren Weg einschlagen will, bei dem Kontrast und Kontinuität sichtbar werden sollen. Ein solches offenes Verfahren soll aber auch für die rückwärtigen Bezüge auf die Literatur gelten, die der der frühen Goethezeit vorausgeht: Mal führen deren Texte Formen und Inhalte der Aufklärung fort, mal überbieten sie sie in ihren Gesten und nur manchmal suchen sie auch den expliziten Bruch.
Den Auftakt der Vorlesung markiert Johann Gottfried Herders Journal meiner Reise aus dem Jahr 1769, in dem das Epochenprogramm abgesteckt wird, das Ende dagegen Goethes Drama Iphigenie auf Tauris aus dem Jahr 1787, das den Beginn einer neuen Phase bedeutet. Viele der Texte, die in den knapp 20 Jahren der Zwischenzeit entstehen, verarbeiten übergreifende Modernisierungsimpulse und formulieren ganz neu entstandene kommunikative Bedürfnisse, die sie in ganz Europa anschlussfähig machten. Dies gilt insbesondere für Goethes frühe Sensationserfolge mit dem Götz von Berlichingen und dem Werther. Neben diesen ersten Beiträgen zur Weltliteratur in deutscher Sprache werden aber auch Gedichte des sog. ‚Göttinger Hain‘, Texte von Lenz (Der Hofmeister, Anmerkungen übers Theater), Klinger (Die Zwillinge), Wagner (Die Kindermörderin) und natürlich des jungen Schillers (Die Räuber, Laura-Gedichte, Philosophische Briefe) im Mittelpunkt stehen. |