Seneca, Phaedra - Einzelansicht

Senecas Dramen, die einzigen vollständig erhaltenen römischen Tragödien, prägten jahrhundertelang das europäische Theater mehr als ihre griechischen Vor­bilder. Kein Geringerer als William Shakespeare orientierte sich vor allem an Seneca, und ein Philologe der Renaissance stellte die Werke des Römers in mancher Beziehung gar über die der attischen Tragiker. Im Urteil späterer Zeit hielten sie allerdings gerade dem Vergleich mit dem griechischen Drama nicht stand; vor allem Vorwürfe wie Uneinheitlichkeit, Effekthascherei und holzschnitt­artige Personencharakterisierung wurden des öfteren erhoben. Bis heute ist nicht einmal sicher, ob Senecas Stücke überhaupt zur Bühnenaufführung bestimmt waren oder ob wir in ihnen nicht vielmehr markante Beispiele eines besonderen literari­schen Genus haben, des Lese- bzw. Rezitationsdramas. Fest steht in jedem Fall, daß in diesen Dramen, immerhin verfaßt von einem der bedeutendsten ethischen Denker des Altertums, Fragen und Probleme der menschlichen Existenz zur Sprache kommen, die auch uns heute nach wie vor zu bewegen, ja zu erschüttern vermögen.

So ist es denn besonders erfreulich, daß unlängst von studentischer Seite die Initiative ausging, eine der fesselndsten Tragödien Senecas, die Phaedra, nicht bloß in der üblichen Weise im Seminar zu erarbeiten, sondern den Versuch einer Bühneninszenierung mit modernen Mitteln zu unternehmen. Der tragische Grund­konflikt dieses Stücks – unmögliche und unerwiderte Liebesleidenschaft, die mit ihrem eklatanten Widerspruch zwischen Emotion und Vernunft letztlich zur (Selbst-) Vernichtung der Protagonisten führt – ist heute so aktuell wie zu Senecas Zeiten, und man muß sich ihm und den vielfältigen anderen Aspekten dieses Dramas mit ebenso vielfältigen Ansätzen nähern, will man ihm wirklich gerecht werden.

Daß eine aktive Umsetzung des Textes als geschriebener Vorlage in eine lebendige Realisierung als Spiel nicht allein tiefere Einblicke in die philolo­gische und historische Deutung des Werks verschafft, sondern für alle Beteiligten zu einer existentiellen Erfahrung werden kann, zeigen auch unser Inszenierungsprojekt, das mittlerweile kurz vor der Umsetzung steht. In einer erstmaligen Kooperation fast aller Saar­brücker Hoch­schulen und des Saarländischen Staatstheaters wird am 28. Mai 2013 in der Alten Feuerwache, einer der Spiel­stätten des Staatstheaters in Saarbrücken, die deutsche Erstaufführung der Phaedra nach 2000 Jahren stattfinden, in einer neuen deutschen Übersetzung, die bereits in einem Lektürekurs im Sommersemester 2011 erarbeitet wurde; eine weitere Aufführung wird es am Folgeabend geben (jeweils um 19 Uhr). Die Theaterproduktion wird von einem wissenschaftlichen Sympo­sion begleitet, zu dem zahlreiche Wissen­schaftler und Theaterfachleute geladen sind.

Aus diesem Grunde wird das Seminar diesmal ein wenig anders verlaufen als gewohnt. Der Schwerpunkt wird natürlich auf dem Text und seiner Interpretation liegen, aber Aufführung und Symposion als konkrete Ereignisse werden in die Seminararbeit einbezogen und zur Grundlage für Referate und Hausarbeiten gemacht, die sich speziell mit dieser konkreten dramaturgischen Umsetzung des Stücks beschäftigen sollen. Deshalb ist auch der gemeinsame Besuch einer der Aufführungen verbindlich. Wenn Sie also Interesse am Seminar haben, teilen Sie mir dies bitte möglichst bald mit, damit ich ein entsprechendes Kontingent an Eintrittskarten reservieren kann.

eine ausführliche Bibliographie sowie Informationsmaterialien zur Aufführung werden in der ersten Sitzung ausgeteilt

zur Einführung: Gregor Maurach: Seneca. Leben und Werk (5. Aufl. Darmstadt, WBG, 2007); Villy Sørensen: Seneca. Ein Humanist an Neros Hof (3. Auflage München 1995; das dänische Original zuerst Kopenhagen 1976); Eckard Lefèvre (Hrsg.): Senecas Tragödien (Darmstadt 1978)

Gesamtausgaben und Kommentare: L. Annaei Senecae Tragoediae, rec. Otto Zwierlein (Oxford 1986, verb. Ndr. zuletzt 2009); Theodor Thomann: Seneca. Sämtliche Tragödien, lateinisch und deutsch (2 Bde.; Zürich / Stuttgart 1961 und 1969, 2. Aufl. von Bd. I Zürich / Stuttgart 1978)

einführend zur Inszenierungsproblematik: Christoph Kugelmeier: Die innere Vergegenwärtigung des Bühnenspiels in Senecas Tragödien (München 2007) 

speziell zur Phaedra: Michael Coffey / Roland Mayer: Seneca, Phaedra (Cambridge 1990); Anthony J. Boyle: Seneca’s Phaedra (Liverpool 1987, Ndr. 1992); Eckard Lefèvre: Quid ratio possit? Senecas Phaedra als stoisches Drama, Wie­ner Studien 3 (1969), 131–160; Roland Mayer: Seneca, Phaedra (London 2002, Ndr. 2004); Hans Jürgen Tschiedel: Phaedra und Hippolytus. Variationen eines tragischen Kon­flikts (Diss. Erlangen / Nürnberg 1969); Clemens Zintzen: Analytisches Hypomnema zu Senecas Phaedra (Meisenheim 1960, zugl. Diss. Köln 1957); Otto Zwierlein,: Senecas Phaedra und ihre Vorbilder, Abhandlun­gen der Mainzer Akademie 1987, Nr. 5 (Stuttgart 1987); erweitert und voll­ständig überarbeitet unter dem Titel „Senecas ‘Phaedra’ und ihre Vorbil­der nach dem Fund der neuen ‘Hippolytos’-Papyri“, in:  Lucubrationes Philologae, hrsg. von Rainer Jako­bi u.a.; Band I: Seneca (Berlin / New York 2004), 57–136

Wichtig: Falls Sie Interesse am Seminar haben, teilen Sie mir dies bitte möglichst bald mit, damit ich ein entsprechendes Kontingent an Eintrittskarten für die Aufführungen reservieren kann.

regelmäßige Teilnahme und Mitarbeit, Referat mit späterer schriftlicher Ausarbeitung oder Hausarbeit vorzugsweise zur Aufführung, Besuch der Aufführung

alle, die sich für dieses für die gesamte abendländische Literaturgeschichte wichtige Drama und für seine konkrete Bühnenrealisierung interessieren