Kommentar |
Athen, Rom, Jerusalem - diese Städte könnte man zugleich als die Hauptorte der abendländischen Kultur bezeichnen. Sie stehen gleichsam als Chiffren für den geistesgeschichtlichen Prozeß, aus dem sich der geistige Bestand Europas wie der westlichen Welt überhaupt formte. Von dieser Substanz zehren wir, trotz vielfacher Umbrüche und Gefährdungen, bis zum heutigen Tage. Das Erbe der klassischen Antike wurde uns überhaupt nur überliefert in der Aneignung durch ein zum Christentum bekehrtes Römisches Reich, durch christliche Gelehrte und Intellektuelle, eine Entwicklung, die sich in der Epoche vollzog, die wir als „Spätantike“ benennen. In mannigfachen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Transformationen überlebt das Altertum nicht in seiner Gesamtheit, aber doch zu erheblichen Teilen den Zerfall des Weströmischen Reiches als staatlicher Organisationsform und den Übergang ins Mittelalter. Es findet Eingang in die Nachfolgereiche, die sich auf dem Boden des ehemaligen Imperium Romanum und weit darüber hinaus konstituieren, und bildet das Fundament, auf dem überall in Europa neue Zentren einer christlich geprägten Kultur entstehen, nicht zuletzt bei uns in Deutschland. Vor allem die lateinische Sprache erweist sich als der hauptsächliche „Transmissionsriemen“ dieses Epochenübergangs; sie wirkt damit neben und verbunden mit der christlichen Religion als das bedeutendste konstitutive Element des Abendlandes, wie es sich uns bis zum heutigen Tage darbietet.
Aurelius Prudentius Clemens (Prudentius / Prudenz), Zeitgenosse von Augustinus und Hieronymus, ist einer der wichtigsten christlichen Intellektuellen, die diesen kulturellen Prozeß in der Spätantike prägen, und zugleich der bedeutendste christliche Dichter des Altertums. Sein Leben verbrachte er in Spanien, einer Region, die dem Römischen Reich so viele herausragende Persönlichkeiten in Kultur (Seneca, Lukan, Martial) und Politik (Trajan, Hadrian) geschenkt hat. Auch Prudentius selbst durchlief eine beeindruckende Karriere als hoher kaiserlicher Beamter in seiner Heimat. Zu Beginn des 5. Jhdts. verfaßte er sein umfangreiches dichterisches Werk. Bei all seiner Prägung durch die christliche Religion, durch die Bibel und die kirchliche Liturgie sind starke Einflüsse und Reminiszenzen des antiken lyrischen Erbes unverkennbar. Sein Einfluß auf die liturgische Poesie des Mittelalters ist groß; manche seiner Gedichte bilden sogar die unmittelbare Vorlage neuzeitlicher Hymnendichtung, die noch heute in Gebrauch ist (z.B. als Weihnachtslieder in der anglikanischen Kirche).
Im Kurs soll eine repräsentative Auswahl aus dem Liber Cathemerinon, einer Sammlung von 12 in lyrischen Strophen abgefaßten Gedichten zu verschiedenen Tageszeiten und Kirchenfesten, gemeinsam gelesen werden. Dabei werden die genannten kultur- und geistesgeschichtlichen Aspekte durchweg zur Sprache kommen. |
Literatur |
Textausgaben und Kommentare: Gerard J.P. O’Daly: Days Linked by Song: Prudentius’ Cathemerinon (Oxford / New York 2012); Prudentius. With an English Transaltion by H.J. Thomson, Vol. I (Cambridge, Mass. / London [Loeb] 1940, mehrfach nachgedr.); Hymns of Prudentius: The Cathemerinon; or, The Daily Round. Translated by David R. Slavitt (Baltimore 1996)
eine ausführliche Bibliographie wird in der ersten Sitzung ausgeteilt; zur ersten Lektüre: Klara Pollmann: Prudentius, in: Der Neue Pauly, Bd. 10 (Stuttgart 2001), Sp. 488 f. |