Kommentar |
Éric Rohmer zählt zu den wichtigsten Vertretern der Nouvelle Vague. Wie Truffaut, Godard, Rivette oder Chabrol hat er wesentlich zu einer Erneuerung der Filmästhetik beigetragen. Im Gegensatz jedoch zu anderen Vertretern der Nouvelle Vague hatte Rohmers Ästhetik nie den bilderstürmerisch-revolutionären oder zumindest sozialkritischen Impuls, den andere zu ihrem Markenzeichen machten. Im Gegenteil: Rohmers filmisches Oeuvre ist eng verwoben mit Diskurstraditionen der französischen Höhenkammliteratur, geprägt von den Moralisten des 17. Jahrhunderts ebenso wie von der Introspektion Rousseauscher Prägung, der amourösen Rede von Marivaux oder den großen Erzählern des 19. Jahrhunderts.
In diesem Seminar wollen wir der Frage nachspüren, wie Rohmer trotz und gerade durch die intermediale Adaptation derartiger Diskurstraditionen eine spezifische Modernität im französischen Kino schaffen konnte. Und das ist nicht leicht: Denn oberflächlich betrachtet zeigen Rohmers Filme zumeist junge Leute, die klug über Liebe reden und sich verlieben. Das Konzept der Liebe als Passion ist per se kaum dazu angetan, eine moderne Filmästhetik zu befördern. Um die "ursprüngliche Negativität" (Jauß) und damit die Modernität seiner ästhetischen Praxis nachzuvollziehen, untersuchen wir daher auf der Grundlage eines breiten Korpus an Filmen sowie programmatischen Texten Rohmers u.a.
1. wie Rohmer das frühe Programm der Nouvelle Vague – Verzicht auf kommerzielle Standards, Verzicht auf Starschauspieler, Plein-Air-Ästhetik, Freude am Amateurhaften und Elementen der Improvisation – umsetzt und weiter entwickelt;
2. wie es ihm gelingt, durch kreative intermediale Adaptation der Tradition in seinen Filmen von durchaus modernen Erscheinungen zu erzählen: vom Wandel des Verhältnisses der Geschlechter, von Treue und Libertinage in der Konsumgesellschaft, von problematisch gewordener Männlichkeit, von jugendlicher Selbstfindung;
3. welche Bedeutung dem filmische Raum zukommt: Rohmers ausgeprägtes Interesse für Geografie und Architektur beeinflusst nachhaltig sein filmisches Schaffen, das von urbanistischen Experimenten zeugt und französische Landschaften magistral zur Geltung kommen lässt;
4. wie Rohmer kreativ die Grenzen zwischen Fiktionalem und Faktualem, zwischen Spielfilm und Dokumentarfilm verschiebt, verwischt und damit Genrekonventionen subversiv unterläuft.
Unabhängig von diesen thematischen Schwerpunkten dient dieses Proseminar auch der Einübung von Techniken der Filmanalyse. Und diese Veranstaltung dient auch der Vertiefung von Kompetenzen, die die Techniken des wissenschaftlichen Arbeitens betreffen.
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Literatur |
Eine umfangreiche Bibliografie wird den Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmern zu Beginn des Semesters zur Verfügung gestellt.
FILME
Filme, die im Zentrum des Seminars stehen: Aus dem Zyklus « Contes moraux »: Ma nuit chez Maud (1969), La collectionneuse (1966), Le genou de Claire (1970) Aus dem Zyklus « Comédies et proverbes » : Pauline à la plage (1982), Le rayon vert (1986), L’ami de mon amie (1986) Die vier Filme der « Contes des quatre saisons » Ferner diverse Dokumentarfilme
SEKUNDÄRLITERATUR
Einführende Literatur zu Rohmer:
Baecque, Antoine de / Herpe, Noel, Eric Rohmer : biographie, Paris 2014. Bonitzer, Pascal, Eric Rohmer, Paris, 1999. Felten, Uta, Figures du désir. Untersuchungen zur amourösen Rede in Filmen von Eric Rohmer, München, 2004.
Grundlagen zu Filmtheorie und Filmanalyse
Albersmeier, Franz-Josef (Hg.), Texte zur Theorie des Films, Stuttgart 2001 (RUB, 9943). Beicken, Peter, Wie interpretiert man einen Film? Stuttgart 2004 (RUB, 15227). Blandford, Steve / Grant, Barry / Hillier, Jim, The film studies dictionary, London 2001. Faulstich, Werner, Grundwissen Medien, Stuttgart 52004. Felix, Jürgen (Hg.), Moderne Film Theorie, Mainz 22003. Kanzog, Klaus, Grundkurs Filmsemiotik, München 2007 (Diskurs Film, 10). Korte, Helmut, Einführung in die systematische Filmanalyse. Ein Arbeitsbuch, Berlin 42010 (ESV basics). Lüsebrink, Hans-Jürgen / Walter, Klaus Peter / Fendler, Ute / Stefani-Meyer, Georgette / Vatter, Christoph, Französische Kultur- und Medienwissenschaft. Eine Einführung, Tübingen 2004 (Narr-Studienbücher).
Grundlagen Intertextualität und Intermedialität
Genette, Gérard, Palimpsestes. La littérature au second degré, Paris 1982. Lachmann, Renate, Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne, Frankfurt a.M. 1990 Mecke, Jochen, « Im Zeichen der Literatur: Literarische Transformationen des Films ». In: Mecke, Jochen / Roloff, Volker (Hg.), Kino-/(Ro)Mania. Intermedialität zwischen Film und Literatur, Tübingen 19999, S. 97-123. Raible, Wolfgang, „Arten des Kommentierens – Arten der Sinnbildung – Arten des Verstehens. Spielarten der generischen Intertextualität“, in: Text und Kommentar, hg. von J. Assmann und B. Gladigow, München 1995 (Archäologie der literarischen Kommunikation, 4), S. 51-73. Rajewski, Irina, Intermedialität, Tübingen/Basel 2002 (UTB, 2261)
Grundlagen Liebessemantik
Barthes, Roland, Fragments d’un discours amoureux, Paris 1977. Luhmann, Niklas, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt 1984.
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Bemerkung |
Im Videolabor wird ein Semesterapparat mit allen wichtigen Rohmer-Filmen zusammengestellt. Er steht den Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmern zur Vorbereitung der wöchentlichen Seminarsitzungen, aber auch für die eigene Weiterarbeit (Hausarbeit) zur Verfügung.
Gemeinsam mit dem "Kino achteinhalb" ist für das Wintersemester eine Eric-Rohmer-Reihe geplant. Ein Teil der gemeinsam behandelten Filme wird daher im Kino achteinhalb zu sehen sein.
TERMINE - jeweils um 20 Uhr im Kino achteinhalb:
Mo, 17.11.14: Ma nuit chez Maud
Mo, 01.12.14: Le rayon vert
Mo, 08.12.14: Conte de printemps
Mo, 12.01.15: Pauline à la plage
Di, 27.01.15: Conte d'été
Mo, 02.02.15: Conte d'hiver |