Literatur und Geschichtsschreibung - Einzelansicht

Im Zentrum dieses Seminars steht die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis von Geschichte und Geschichten, und damit auch nach den Beziehungen zwischen Geschichtswissenschaft und Literaturwissenschaft. Dass es überhaupt einen signifikanten Unterschied zwischen der Rekonstruktion und Dokumentation historischer Ereignisse und deren literarischer (Nach-)Erzählung bzw. Fiktionalisierung gibt, wird zunehmend angezweifelt; und zwar in bestimmten Zweigen der Geschichtswissenschaften ebenso wie in der Literaturtheorie (etwa der Fiktionstheorie und dem New Historicism). Was bedeutet diese Haltung für unser Verständnis von Historie und Erzählung?

Nach einer kurzen theoretischen Einführung werden wir uns dieses weite Problemfeld vor allem durch die Analyse literarischer und filmischer Werke erschließen, nämlich anhand der ästhetischen Verarbeitung eines ganz bestimmten historischen Ereignisses: Thema des Seminars ist die Invasion und Besetzung Frankreichs und Belgiens durch die Wehrmacht im Mai/Juni 1940, die nicht nur zahllose Soldaten und Zivilisten das Leben gekostet, sondern auch riesige Flüchtlingsströme in den Süden Frankreichs zur Folge hat.

Verschiedenste SchriftstellerInnen (u.a. der Nobelpreisträger Claude Simon) und Künstler haben dieses Ereignis verarbeitet. Solche Werke − Romane, Erzählungen, ein Film, ein Skizzenbuch und einige Ölgemälde  − bilden den zentralen Untersuchungsgegenstand unserer Arbeit. Wir analysieren sie nicht nur vergleichend im Hinblick auf ihre historischen, erzählerischen und autobiographischen Dimensionen. Wir stellen auch einen direkten Bezug her zwischen den ästhetischen Artefakten und der historiographischen Rekonstruktion in unterschiedlichen einschlägigen Geschichtsbüchern.

Mit dieser Konzentration auf stets dasselbe historische Ereignis in verschiedenen Textsorten ist das Ziel verbunden, grundlegende Formen und Funktionen historiographischer und ästhetischer Texte herauszuarbeiten.

Auch wenn sämtliche Werke, die auf dem Seminarprogramm stehen, in deutscher Übersetzung vorliegen, wären gute Französischkenntnisse für die Teilnahme von Vorteil.

Ästhetische Werke

Bourdouxhe, Madeleine: Sous le pont Mirabeau [1943], Bruxelles: Labor 1996.

Masereel, Frans: Juin 40. Souvenir de l’exode. Trente deux planches de Frans Masereel.

Hrsg. von Pierre Tisné. Paris: 1942

Merle, Robert: Week-end à Zuydcoote [1949], Paris: Gallimard 1966.

Némirovsky, Irène: Suite française [1942?], préface de Myriam Anissimov, Paris: Gallimard 2004.

Simon, Claude : La Route des Flandres, Paris: Minuit 1959.

Werth, Léon: 33 jours. Récit [1944?], Paris: Viviane Hamy 1992.

Week-end à Zuydcoote, Regie: Henri Verneuil, Frankreich/Italien 1964.

Historiographie und Literatur(theorie)

Genette, Gérard: Fiction et diction, Paris 1991 [Fiktion und Diktion, München 1992].

Goertz, Jürgen: Unsichere Geschichte. Zur Theorie historischer Referenzialität, Stuttgart 2001.

Gossman, Lionel: Between History and Literature, Cambridge 1990.

Jordan, Stefan (Hg.): Lexikon Geschichtswissenschaft, Stuttgart 2003.

Nünning, Ansgar: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion. Theorie, Typologie und Poetik des historischen Romans, Trier 1995.

White, Hayden: The Content of the Form. Narrative Discourse and Historical Representation, Baltimore 1987 [Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung, Frankfurt: Fischer 1990].