Armut lässt sich als universelles Muster beschreiben, das translokal wie diachron auftritt und sozio-kulturelle Ordnungen prägt. In den vormodernen Agrargesellschaften Europas dominierten Armut und ihre Folgen das Leben breiter Bevölkerungsteile. Im 21. Jahrhundert ist existenzielle Armut ein globales Massenphänomen, bedroht aber in den sog. früh industrialisierten Staaten inzwischen eher Minderheiten. Allerdings sind ihre weltweiten Ausprägungen auf multiple Weise ganz unmittelbar mit unserem lokalen Alltag verbunden, schreiben sich performativ wie materiell in ihn ein und gestalten so auch soziale Realitäten vergleichsweise reicher Gesellschaften.
Die Europäische Ethnologie nimmt das Verhältnis von Armut und Reichtum gewissermaßen seit ihren Anfängen in den Blick – denkt man etwa an frühe volkskundliche Regionalstudien oder den weiten Bereich der Erzählforschung. Insbesondere Studien in der Tradition der sog. „Münchner Schule“ fokussieren den Alltag in Armut sowie gesellschaftliche Formen ihrer Regulierung (~ Armenfürsorge). Auch in gegenwartsorientierten Ethnografien ist Armut wiederkehrendes Thema, ohne i.d.R. jedoch zentrales Forschungsobjekt zu sein. Eine systematische Reflexion und theoretische Fundierung des Konzepts der Armut blieb zumindest bislang aus.
Im Proseminar „Armut | Kultur| Alltag“ werden wir uns in exemplarischen Suchbewegungen dem Thema Armut nähern, hier insbesondere Perspektiven der Europäischen Ethnologie kennenlernen, einen ersten Überblick über disziplinäre Themenfelder gewinnen sowie spezifische Quellen und Methoden des Fachs diskutieren. Der Kurs bietet die Möglichkeit, historische und gegenwartsorientierte Aspekte von Armut gleichermaßen in den Blick zu nehmen, d.h. nicht zuletzt auch eigene Themenvorstellungen umzusetzen bzw. forschungspraktisch zu erproben. |