Kommentar |
„Dialektik“ ist ein für Philosophie-Anfänger möglicherweise einschüchterndes Wort. Ein Teil des Problems besteht wahrscheinlich darin, dass der Ausdruck seit seinem Aufkommen in der griechischen Antike (dialektike) über Jahrhunderte hinweg mit einigermaßen verschiedenen Inhalten semantisch gefüllt worden ist, so dass man nicht ohne Weiteres eine eindeutige Bedeutungsauskunft geben kann. Eine Gemeinsamkeit hält sich aber durch: Dialektik hat immer irgendwie mit Gegensätzen oder Widersprüchen zu tun.
Bei der von Adorno und Horkheimer 1944 im kalifornischen Exil fertiggestellten „Dialektik der Aufklärung“, einer Hauptschrift der sog. Kritischen (Gesellschafts-)Theorie, ist der Gedanke des Umschlagens von Gegensätzen ineinander zentral, sinngemäß etwa so: Die historische Bewegung gehe (bisher) von der Finsternis eines Lebens im Banne mythischer Vorstellungen zum Licht der aufgeklärten, durch Wissenschaft und Technik sich (partiell) von Naturzwängen freimachenden Vernunft und wieder zurück in einen Zustand von Fremdbestimmung, diesmal durch ökonomisch und technologisch begründete, tatsächliche oder vermeintliche Systemzwänge. Oder mit bildkräftigeren Formulierungen der Autoren selbst, die insbesondere auch das damals in Europa sich vollziehende, industriemäßig organisierte Morden der Nazis im Blick haben: Im Zuge der Industrialisierung werde „der dunkle Horizont des Mythos von der Sonne der kalkulierenden Vernunft aufgehellt, unter deren eisigen Strahlen die Saat der neuen Barbarei heranreift“ (Dialektik 38); die Gewalt „des Systems“ über die Menschen wachse „mit jedem Schritt ..., der sie aus der Natur herausführt“ (Dialektik 45).
Im Kontext solcher Thesen schießen die Autoren, offenbar nicht zuletzt im Gefühl des Provoziertseins durch ehedem vom Wiener Kreis vorgetragene Auffassungen über Wissenschaft einerseits und „sinnlose“ Metaphysik andererseits, so manche Breitseite ab: gegen wissenschaftliche Rationalität im Allgemeinen und gegen Mathematik, Kalkulation und Logik im Besonderen. Dies kann man veraltet und abwegig finden, schließlich ist die Wissenschaftstheorie inzwischen viel liberaler geworden, und weshalb sollte z. B. Rechnen per se schlecht sein? Anderes lässt an erhebliche Aktualität denken: Wieviel Politik wird nicht heutzutage mit einer gewissen Unverfrorenheit als „alternativlos“ verkauft, und wieviel Systemzwang übt beispielsweise die IT-Industrie aus, indem sie für bestimmte Produkte den „support“ einstellt und dadurch auch diejenigen zum Kauf neuer Produkte erpresst, die ihre Bedürfnisse durch die alten hinreichend abgedeckt sahen?
Im Seminar soll der in der Fischer-Tb-Ausgabe rund 40 Seiten umfassende, in den Details oft nicht leicht zu verstehende Abschnitt „Begriff der Aufklärung“ vom Beginn der Dialektik besprochen, mit seinen Verweisen historisch eingeordnet und auf seine Aktualität hin befragt werden.
Literatur: Horkheimer, M., und Adorno, Th. W., Dialektik der Aufklärung – Philosophische Fragmente; Frankfurt/M. 2013. |