Kaum ein anderer Beruf weckt eine so ausgeprägte Neugierde wie der des Schriftstellers[1]: „Wie macht er das?“ „Was will er damit sagen?“ „Was macht ‚gute‘ Literatur aus?“ und „Wozu braucht man sie?“ sind wohl die prominentesten Fragen, die das Genre Poetikvorlesung aus Perspektive des Publikums maßgeblich rechtfertigen. Sie sind in erster Linie dem Umstand geschuldet, dass ‚Schriftsteller‘ kein Ausbildungsberuf ist und insofern als handwerkliches Mysterium erscheint, das der Leser rational aufzuschlüsseln trachtet. „Würde man einen Tischler fragen, wozu Tischlerei betrieben wird, wäre er wahrscheinlich verwundert“, sagt Jurek Becker. „Anders sieht es aus, wenn jemand nach dem Grund des Bücherschreibens fragt. Das Bedürfnis nach Büchern ist durchaus nicht offenkundig, ihr Gebrauchswert alles andere als augenfällig.“[2]
Seit der Autonomisierung der Literatur Ende des 18. Jahrhunderts steht der Schriftsteller zwar einerseits unter einem besonderen Legitimationsdruck, andererseits kann er sein Tun aber jetzt auch frei legitimieren. Die Regelpoetik ist einer individuellen ‚Poetik der Autoren’ gewichen. Um zu erklären, was Literatur ist, was sie kann, darf und soll, wo der Schriftsteller gesellschaftlich verortet ist und wie, warum und zu welchem Zweck er schreibt, kommen aber auch Autoren des 20. und 21. Jahrhunderts ohne gewisse ‚altgediente‘ poetologische und ästhetische Prämissen nicht aus. Sie schreiben sich mit ihren Reflexionen in Traditionslinien der philosophischen Ästhetik und der Poetik ein, auch dann, wenn sie sich kritisch mit ihnen auseinandersetzen. Die Übung verfolgt das Ziel, diesen langlebigen ästhetischen und poetologischen Topoi an einigen Beispielen des Genres Poetikvorlesung nachzuspüren und versteht sich damit auch als Einführung in allgemeine Grundlagen der Ästhetik und Poetik. „Erschrecken Sie [also] nicht, meine Damen und Herren, wenn ich mit Hegel beginne.“[3]
Folgende Texte werden in der Übung behandelt:
Edward Estlin Cummings: i. six nonlectures. ich. sechs nichtvorträge. Deutsch von Lars Vollert. Ebenhausen bei München 2005. (Harvard-Vorlesungen 1952/53)
Ingeborg Bachmann: Probleme zeitgenössischer Dichtung. München; Zürich 1982. (Frankfurter Poetikvorlesungen 1959/60)
Helmut Heißenbüttel: Frankfurter Vorlesungen über Poetik. In: Helmut Heißenbüttel: Über Literatur. Aufsätze und Frankfurter Vorlesungen. München 1970. (Frankfurter Poetikvorlesungen 1963)
Jorge Luis Borges: Das Handwerk des Dichters. Aus dem Englischen von Gisbert Haefs. 2. Auflage. Frankfurt a.M. 2008. (Harvard-Vorlesungen 1967/68)
Italo Calvino: Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. Frankfurt a.M. 2012. (Harvard-Vorlesungen 1985/86)
George Steiner: Der Meister und seine Schüler. Lessons of the Masters. Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer. München 2004. (Harvard-Vorlesungen 2001/02)
Daniel Kehlmann: Diese sehr ernsten Scherze. Poetikvorlesungen. Göttingen 2007. (Göttinger Poetikvorlesungen 2006)
Juli Zeh: Treideln. Frankfurter Poetikvorlesungen. Frankfurt a.M. 2013.
Thomas Glavinic: Meine Schreibmaschine und ich. Mit einem Vorwort von John Burnside. München 2014. (Bamberger Vorlesungen 2012)
[1]Die männliche Form schließt im Folgenden die weibliche ein.
[2]Jurek Becker: Frankfurter Vorlesungen 1990: „Warnung vor dem Schriftsteller“.
[3]Helmut Heissenbüttel, Mainzer Poetikdozentur 1982: „Von der Lehrbarkeit des Poetischen oder Jeder kann Gedichte schreiben“.
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