Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein gilt das Schreiben von Gedichten als typische Tätigkeit gelehrter Humanisten. Der Dichter zeigt seine Bildung, indem er sich an traditionellen Mustern orientiert: Rhetorisch-stilistische Eleganz und geschickte Variation zählen mehr als expressive Originalität, und die Lyrik hat als gelehrte Poesie, geistliches Lied oder Gelegenheitsgedicht eine klar definierte gesellschaftliche Funktion.
Das ändert sich um 1770 – vereinfacht gesagt, mit den Gedichten des jungen Goethe. Lyrik wird nun fast ausschließlich verstanden als spontane Artikulation intimer Gefühle und Stimmungen, als individueller und besonders authentischer Ausdruck höchster Subjektivität. Auch die Avantgarde im 20. Jahrhundert hat dieses dominierende Lyrikverständnis nicht gänzlich außer Kraft setzen können.
Die Vorlesung setzt beim vielbeachteten ›Neubeginn‹ um 1770 ein, problematisiert den Begriff der ›Erlebnisdichtung‹ und folgt der Entwicklung der deutschen Lyrik vom Sturm und Drang über Klassik und Romantik, Restaurationszeit und Realismus bis zum Ästhetizismus des Fin de siècle. Im Mittelpunkt stehen exemplarisch ausgewählte, kanonisierte Gedichte, die im Zusammenhang mit den wesentlichen ästhetischen und sozialhistorischen Bedingungen ihrer Entstehungszeit interpretiert werden.
Die Einbeziehung berühmter Balladen zwischen Bürgers Lenore und Fontanes Brück am Tay erweitert den Fokus ebenso wie die Thematisierung politischer ›Tendenzpoesie‹. Anhand der Gattung Lyrik vermittelt die Vorlesung auf diese Weise einen breiten literarhistorischen Überblick über die Zeit zwischen 1770 und 1900 – und fungiert im Idealfall auch im Sinne Hans Magnus Enzensbergers als »erste Hilfe für alle, die meinen, daß sie nichts mit Gedichten anfangen können«. |